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Muižnieks: "Europa verschließt die Augen vor der Krise"

Naomi Conrad 19. Dezember 2013

Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Muižnieks, kritisiert die europäische Asylpolitik. Flüchtlinge dürften nicht mehr nach Bulgarien zurückgeschickt werden: Die Lage dort sei teilweise menschenunwürdig.

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Nils Muiznieks, Kommissar für Menschenrechte des Europarates (Foto: Europarat)
Bild: Council of Europe

DW: Die Krise in Syrien zieht sich nun schon fast drei Jahre hin. Seitdem, sagen Sie, hätten die Mitgliedsstaaten des Europarates die Augen vor der Flüchtlingskrise verschlossen. Wie ist das möglich?

Nils Muižnieks: Viele Regierungen hatten gehofft, dass sich die Krise schnell lösen würde. Hinzu kam ein zweiter Wunschgedanke: Die Hoffnung, dass die Flüchtlinge in den Nachbarstaaten bleiben würden. Jetzt glauben viele, dass sie einfach das Rücknahmeabkommen mit der Türkei unterzeichnen und alle Flüchtlinge zurück in die Türkei schicken können. Dann wäre das ein türkisches Problem. Aber das wird natürlich nicht passieren! Ich glaube auch, dass es sehr bequem für europäische Regierungen war, die Augen zu verschließen, weil die öffentliche Meinung gegenüber Flüchtlingen sehr feindselig ist. Hinzu kommen die Wirtschaftskrise und die Sparmaßnahmen. Aber ich bin mir sicher, dass dieses Problem nicht mehr lange ignoriert werden kann: Ungarn und Bulgarien sind unter Druck, und zum ersten Mal fliehen größere Menschenmengen in die Länder des Westbalkans, die darauf überhaupt nicht vorbereitet sind.

Flüchtlingsunterkunft in Bulgarien für syrische Flüchtlinge (Foto: Apollofilm, Alix François Meier)
Syrische Flüchtlinge in einer Notunterkunft in BulgarienBild: Apollofilm/Alix François Meier

Sie sind gerade von einer Recherchereise in Bulgarien zurückgekehrt. Dort ist das Asylsystem nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen völlig überfordert von den Flüchtlingen aus Syrien, die in den letzten Monaten eingetroffen sind. Würden Sie dieser Einschätzung zustimmen?

Ja, das ist eine zutreffende Beurteilung: Bulgarien war überfordert und völlig unvorbereitet. Dabei gab es im Vorfeld Warnungen. Zahlenmäßig handelt es sich, um ehrlich zu sein, gar nicht um so viele Flüchtlinge. Allerdings sind die Zahlen innerhalb eines Jahres um ein Vielfaches gestiegen. Bulgarien fehlte sowohl das Personal als auch die Notunterkünfte, um damit klarzukommen. Jetzt bekommt Bulgarien die Situation allerdings langsam in den Griff: Die Behörden sind dabei, mehr Personal einzustellen und haben öffentliche Ausschreibungen gemacht, um die Notunterkünfte zu sanieren. Im Januar werden sie außerdem Gelder von der Europäischen Kommission bekommen. Auch das UN-Flüchtlingshilfswerk führt eine Notoperation durch: Der UNHCR arbeitet fast nie in Europa, das allein ist schon ein Anzeichen für das Ausmaß des Problems. Aber es wird natürlich noch eine ganze Weile dauern, bis die Probleme gelöst sind. Und dann reicht es nicht, den Menschen einen Aufenthaltsstatus zu geben, ihnen muss später auch geholfen werden. Wenn die Leute nichts haben, also keine Bildung, keinerlei Perspektive auf einen Job, keine Hilfe bei der Unterbringung, dann werden sie natürlich in andere Länder weiterziehen.

Deswegen fordern Sie auch, dass andere europäische Länder syrische Flüchtlinge nicht zurück nach Bulgarien schicken?

Nein, ich glaube, derzeit ist das Risiko, dass sie dort menschenunwürdigen Zuständen ausgesetzt sind, sehr hoch. Die Bulgaren brauchen jetzt eine Atempause. Ich weiß nicht, für wie lange, aber sie brauchen Zeit, um ein funktionsfähiges System zu errichten. Deshalb werde ich Regierungen auffordern, derzeit keine Flüchtlinge zurück nach Bulgarien zu schicken. Im Moment ist Bulgarien einfach überfordert.

In anderen europäischen Ländern, wie etwa Italien, ist die Lage von Flüchtlingen auch nicht viel besser.

Italien ist im Prinzip ein Glücksspiel: In manchen Regionen erhalten Flüchtlinge angemessene Unterkünfte und Leistungen - in anderen gar nichts. Den Berichten zufolge verbessert sich die Situation langsam - auch wenn es derzeit nur recht kleine Schritte in die richtige Richtung sind. Ich würde deshalb sagen, dass die Frage, ob Flüchtlinge zurück nach Italien geschickt werden, von der jeweiligen Region abhängt. Wir sehen ja auch, dass Gerichte in manchen Mitgliedsstaaten gegen die Abschiebung nach Italien geurteilt haben.

Flüchtling im Schnee in Istanbul (Foto: BULENT KILIC/AFP/Getty Images)
Hilfsorganisationen warnen, dass viele Flüchtlingslager nicht auf den Wintereinbruch vorbereitet sindBild: Bulent Kilic/AFP/Getty Images

Beunruhigen Sie die derzeitigen Verhandlungen der EU mit der Türkei, die im Prinzip eine Art Deal beeinhalten: erleichterte Visabestimmungen für türkische Staatsbürger, und im Gegenzug werden syrische Flüchtlinge in die Türkei abgeschoben?

Ich fürchte, dass das genau die Hoffnung ist, die viele europäische Beamte hegen, nämlich, dass sie Flüchtlinge, die über die Türkei nach Europa gekommen sind, dorthin zurückschicken können. Das beunruhigt mich: Die Türkei leistet fantastische Arbeit - ist aber aufgrund der hohen Flüchtlingszahlen schon jetzt unter gewaltigem, vor allem finanziellen Druck. Ich kann mir schwer vorstellen, wie die Türkei ihre Grenzen bewachen soll: Wenn die es nicht schaffen, PKK-Rebellen davon abzuhalten, über die Grenzen zu reisen, wie wollen sie dann Flüchtlinge stoppen? Wenn ich ein türkischer Beamter und besorgt wäre, dass Syrer zurück in die Türkei geschickt werden, dann würde ich ihnen einen türkischen Pass geben: Dann genießen sie genauso wie alle anderen Türken erleichterte Einreisebestimmungen in Europa.

Deutschland hat eine relativ große Anzahl syrischer Flüchtlinge aufgenommen. Allerdings gibt es viele, die sagen, die Zahl sei viel zu gering.

Wenn Sie sich anschauen, was die Türkei oder Armenien tun, dann ist die Zahl nicht so groß. Ich glaube, dass Deutschland mehr tun könnte. Es ist klar, dass die deutschen Behörden nicht die einzigen sein wollen, die etwas in Europa tun. Sie hoffen, dass andere Länder ihrem Beispiel folgen. Wenn etwa Frankreich 500 syrische Flüchtlinge aufnimmt, dann ist das ganz klar nicht ausreichend. Auch Großbritannien, das nur Geld geben, aber keine Flüchtlinge aufnehmen will, leistet nicht genug. Andere Länder sollten wirklich mehr tun!

Unicef fordert mehr Hilfe für syrische Flüchtlinge

Was steht in diesen Weihnachtstagen ganz oben auf Ihrer Wunschliste an europäische Regierungen?

Ich wünsche mir eine großzügigere Aufnahme syrischer Flüchtlinge über das Resettlement-Programm der UN - und zwar nicht nur aus Jordanien und dem Libanon, sondern auch aus der Türkei. Das würde nicht nur die Not der Menschen lindern, sondern auch den gewaltigen Druck mindern, dem diese Länder ausgesetzt sind.

Sind Sie optimistisch, dass dieser Wunsch tatsächlich in Erfüllung geht?

Ich habe das Gefühl, dass ich kein ganzes Geschenk bekomme werde - zumindest aber hoffentlich kleine Teile davon.

Nils Muižnieks ist seit 2012 Menschenrechtskommissar des Europarates, ein Zusammenschluss von 47 europäischen Staaten. Der Kommissar kann Empfehlungen aussprechen und Kritik üben - Sanktionen verhängen aber nicht.

Das Interview führte Naomi Conrad