Mordanklage wegen MH17-Abschuss
19. Juni 2019Die niederländischen Staatsanwälte hatten die Angehörigen über den Stand der Ermittlungen vorab unterrichtet. Das gemeinsame Ermittlungsteam, das aus Experten aus den Niederlanden, Australien, Malaysia und der Ukraine besteht, veröffentlicht fünf Jahre nach dem Abschuss des Malaysia Airline Fluges MH17 über der Ostukraine erste konkrete Ergebnisse. Es war eine der spektakulärsten Katastrophen der jüngeren Luftfahrtgeschichte, bei der alle 298 Insassen ums Leben kamen, unter ihnen 80 Kinder. Die Botschaft dieses Tages für die Hinterbliebenen war: Jetzt wird Mordanklage gegen die ersten Verdächtigen erhoben, die für den Abschuss des Flugzeuges verantwortlich gemacht werden. Hans de Borst, dessen Tochter Elsemiek damals ums Leben kam, spricht von einem "ersten Schritt zur Gerechtigkeit". Auch Silene Frederiksz-Hoogzand, deren Sohn Bryce bei dem Abschuss des Fluges starb, sagt, dass es ein wichtiger erster Schritt sei. Allerdings können am Ende dieses und weiterer möglicher Verfahren zwar Urteile stehen, aber es wird voraussichtlich niemand eine Strafe antreten müssen.
Es geht um die mittlere militärische Ebene
Der leitende Staatsanwalt Fred Westerbeke erläuterte noch einmal genau den Verlauf der Ermittlungen, die das Team bis zu dem Punkt führte, wo Anklage erhoben werden kann. Der erste Schritt war, das russische BUK-Geschütz aus der Serie 9M38 zu identifizieren, das am 17. Juli 2013 in der in der Ostukraine in der Nähe des Ortes Pervomaiskyi gesichtet wurde. Auch der Transport der Flugabwehrrakete von russischem Territorium und seine Rückführung nach dem Abschuss des Flugzeuges konnten rekonstruiert werden. Man habe Tausende von Telekom-Daten und wohl ukrainisches Geheimdienstmaterial ausgewertet sowie die einschlägigen Social-Media-Kanäle durchforstet.
Jetzt präsentieren die Behörden vier Verdächtige, gegen die im März nächsten Jahres ein Mordverfahren vor dem Gericht im niederländischen Schiphol anlaufen soll. Dabei ist klar, dass dieser Prozess gegen drei Russen und einen Ukrainer in Abwesenheit geführt werden muss, denn beide Länder liefern ihre Staatsangehörigen nicht an Drittländer aus.
Genannt wurden jetzt Igor Girkin, ein früherer russischer Oberst, der damals als Oberkommandierender der Kämpfe in der Ostukraine agierte. Er war vorübergehend Verteidigungsminister der sogenannten "Volksrepublik Donezk" und Mitglied von deren Militärgeheimdienst. Er arbeitete zusammen mit Sergej Dubinski, früher Angehöriger des russischen, dann des Separatisten- Militärgeheimdienstes sowie mit Oleg Pulatow, ein Mitglied von dessen Spezialtruppen. Vierter im Bunde ist der ukrainische Milizen-Kommandeur Leonid Chartschenko. Alle gemeinsam hätten an militärischen Aktionen vor Ort im entsprechenden Zeitraum teilgenommen, die in Zusammenhang mit dem Abschuss gebracht werden.
"Die Handlungen dieser Vier haben zum Abschuss von MH17 geführt, aber sie haben nicht selbst auf den Knopf (am Geschütz) gedrückt", erklärte Westerbeke. Damit ist klar, dass man glaubt, genug Beweise gegen die mittlere militärische Ebene in der Hand zu haben. Die Männer hätten zwar das Kommando zum Abschuss des Flugzeuges nicht direkt gegeben, aber mit dem Transport der BUK-Rakete in die Ostukraine zu tun gehabt. Der eigentliche Befehl müsse von höherer Ebene in Russland gekommen sein, so wird gemutmaßt. Aber, so betonen die niederländischen Strafverfolger, es reiche für eine Mordanklage in 298 Fällen. Wer mit der Durchführung eines Mordes ursächlich verbunden ist, kann angeklagt werden, auch wenn er selbst nicht vor Ort war.
Unklare Beweislage
Was im Einzelnen die Beweise gegen die jetzt vorgestellten vier Angeklagten sind, bleibt allerdings weiter unklar. "Erst im Gericht können wir offen reden", erklärt der leitende Staatsanwalt, der auf die Notwendigkeit zur Geheimhaltung pocht. Insbesondere seien Zeugen gefährdet, wenn ihre Namen an die Öffentlichkeit kämen, man müsse sie also schützen. Dennoch appellieren die Behörden erneut an Bewohner der Region, mit ihnen zusammen zu arbeiten, um den Fall weiter aufzuklären. Es wurden allerdings Tonmitschnitte von Telefonaten vorgespielt, die auf die Verstrickung der Beschuldigten in Vorbereitungen deuten, die dann zum Abschuss des Flugzeuges führten.
Seit längerem ist bekannt, dass aus bestimmten Telefon- und Social-Media-Kontakten hervorgeht, wie sich mutmaßlich Beteiligte über Aspekte des Abschusses austauschen. Man habe diese vier aus hundert Verdächtigen herausgefiltert, die mit der Verlegung des BUK-Geschützes der 53. Flugabwehreinheit zu tun gehabt hätten, erklären jetzt die Ermittler. Die genannten Militärs seien diejenigen, deren Handlungen im Ergebnis "zum Abschuss von MH17" geführt hätten. Allerdings habe man keine Untersuchungen vor Ort durchführen können, weil die betreffende Region der Ostukraine immer noch nicht zugänglich sei.
Zähe Ermittlungen
Die Rechercheplattform Bellingcat wiederum glaubt, sie sei mehrere Schritte weiter. Sie identifizierte bereits acht Separatisten, die mit Sergej Dubinski in Kontakt standen. Die Ermittler sind hier vorsichtiger, weil sie für die Strafverfolgung weiterer Beteiligter härtere Beweise brauchen als abgehörte Telefonate, deren Echtheit teilweise schwierig zu verifizieren sind.
Ein Auslieferungsersuchen an Russland wird gar nicht gestellt, denn es ist rechtlich unmöglich. Aber es ergeht ein internationaler Haftbefehl gegen die Angeklagten, die damit die Möglichkeit zu Auslandsreisen weitgehend verlieren. Außerdem teilte die Ukraine mit, sie werde von sich aus versuchen, ihren Landsmann Chartschenko zu verhaften. Gleichzeitig appellieren die Strafverfolger an die russischen Behörden, ihnen Fragen zu den damaligen Vorfällen zu beantworten und zur Aufklärung beizutragen. Demgegenüber kritisierte ein Sprecher des russischen Präsidenten erneut die Ermittlungen und nannte sie einseitig. "Russland konnte nicht teilnehmen", sagte Dmitri Peskow.
Über die russische Nachrichtenagentur Interfax äußerte sich Igor Girkin selbst zu dem Fall. "Ich kann nur erklären, dass die Rebellen die Boeing nicht abgeschossen haben". Weder er noch andere Separatisten seien darin verwickelt, die Milizen hätten mit der Sache nichts zu tun.
Die Ermittlungen in dem fünf Jahre zurückliegenden Fall sind zäh verlaufen. Das hat damit zu tun, dass Russland nicht kooperiert, vor Ort nicht recherchiert werden kann. Zudem ist die Auswertung der vorliegenden Daten heikel, weil immer die Gefahr der Manipulation besteht. Offen bleiben bisher die beiden großen Fragen, wie weit oben in der russischen Hierarchie der Befehl gegeben wurde und wer den Finger am Abzug hatte. Zu letzterem kursieren seit längerem weitere Namen, aber den niederländischen Staatsanwälten scheinen die Beweise zu fehlen.