Brazilcore: Mode aus den Favelas
22. Mai 2024"Wer hat gesagt, dass die Flagge uns nicht gehört?", schreibt Abacaxi unter einem seiner Fotos auf Instagram. Auf dem Bild sind Models in Brasilien-Shirts, -Röcken und -Bikinis zu sehen, sie schwenken die brasilianische Flagge und tragen die Brasilien-Kollektion des Modedesigners aus Rio de Janeiro.
Abacaxi hat die Modelinie mitten in der Amtszeit von Bolsonaro (2019 - 2022) herausgebracht. Zu einer Zeit also, als die brasilianische Flagge als politisches Erkennungszeichen des rechtspopulistischen Expräsidenten und dessen Anhänger galt. "Er hat uns die Flagge entrissen", sagt Abacaxi im DW-Gespräch in Rio de Janeiro. "Als Bolsonaro Präsident wurde, ist die Brasilien-Ästhetik aus den Favelas verschwunden."
Genau das will er nun ändern. Mit seinem Modelabel Piña will er die Bedeutung der brasilianischen Flagge und ihrer Farben grün und gelb als Symbol nationaler Identität zurückerobern.
Ein brasilianisches Sommermärchen
Als Ronaldo 2002 die brasilianische Nationalmannschaft zum fünffachen Fußball-Weltmeister schoss, schmückten Brasilien-Flaggen im ganzen Land Häuser, Autos und Läden. Kinder trugen Brasilien-Trikots und träumten von einer Karriere als Fußballstar. Das Trikot der brasilianischen Mannschaft wurde zum Symbol des Nationalstolzes.
Bis Bolsonaro ins Spiel kam und die Flagge für seine Zwecke instrumentalisierte. Jetzt möchte Designer Abacaxi den Brazil-Look dorthin zurückbringen, wo er herkommt: aus Rios Favelas.
Brazilcore: Die Renaissance der Nationalfarben
Spätestens seitdem Madonna bei ihrem historischen Konzert Anfang Mai 2024 in Rio de Janeiro im Brazil-Look auf der Bühne eine Transfrau küsste, ist klar: Die Flagge gehört allen Brasilianern und Brasilianerinnen - nicht nur den politisch konservativen Anhängern des Ex-Präsidenten.
Inspiriert von Madonna spricht sogar die São Paulo Trans Pride von einer "Renaissance" der Nationalfarben und ruft alle Teilnehmenden dazu auf, während der Parade die Flagge zu tragen.
Wer heute auf den Straßen Brasiliens ein Brasilien T-Shirt trägt, wird nicht mehr automatisch dem rechten Spektrum zugeordnet. Aber das liegt nicht nur an Madonna, oder daran, dass Bolsonaro nicht mehr Präsident ist.
Entpolitisierung durch Promis: Bye Bolsonaro, hello Hailey
Lange vor Madonna posierten bereits - auch internationale - Stars wie Anitta, Hailey Bieber, Lady Gaga oder Emily Ratajkowski im Brasilien-Shirt und verbreiteten so den Trend, der sich außerhalb Brasiliens "Brazilcore" nennt.
Nachdem Hailey Bieber 2022 ein Bild im Brasilien-Shirt postete, tauchten bei TikTok immer mehr #Brazilcore Videos auf, in denen Influencer erklären, wie sie ihr Brasilien-Shirt stylen. Es dauerte nicht lange, bis die französische Ausgabe der Modebibel Vogue Brazilcore zum "Flagship-Trend" des Sommers kürte. Damit war ein Look, der lange als Ästhetik der Unterschicht galt, salonfähig geworden - der Look eben der Menschen, für die der Traum von einer Fußballkarriere in den 00er Jahren den Weg aus der Armut symbolisierte.
Die Favela-Ästhetik: Aus Villa Kennedy in die Welt
Für Abacaxi ist dieser Look Kunst. Der 24-Jährige ist stolz auf seine Identität und Herkunft. Er ist ein "cria", das ist eine brasilianische Selbstbezeichnung für Personen, die in einer Favela geboren und aufgewachsen sind. Abacaxi kommt aus Villa Kennedy, ein Vorort von Rio de Janeiro, den die Elite Rios höchstens aus Schlagzeilen kennt. In seiner Instagram-Bio steht: "Aus VK in die Welt".
Seinen Spitznamen, der auf Portugiesisch Ananas bedeutet, hat ihm eine Freundin gegeben, als er aus Liebeskummer so viel Ananas aß, dass er Magenprobleme bekam. Deshalb bekam seine Marke Piña einfach denselben Namen wie er, aber auf Spanisch.
Für Mode interessierte sich Abacaxi schon in der Schule. Im Unterricht zeichnete er - möglichst unauffällig - Kleider. "Heimlich, damit ich nicht gemobbt wurde. Ich war schon immer ein sehr weibliches Kind, ich war schon immer queer", erzählt er.
Dresscode: cool
Mit 15 begann Abacaxi, Funk-Partys in den Vororten Rios zu besuchen. Das sind Partys, auf denen die brasilianische Musikrichtung "Baile Funk" gespielt wird, eine Mischung aus Hip Hop und elektronischen Beats, die in Rio de Janeiros Favelas entstanden ist. "Das war der Moment, in dem ich mich in Mode verliebt habe", erinnert er sich.
"Auf den Partys waren alle so gut angezogen, dass ich auch gut aussehen wollte. Also habe ich angefangen, meine eigenen Looks zu kreieren", erzählt er. Seine Outfits verkaufte er in einem Secondhandshop in einer Favela, "Abacaxis Laden".
Aus den Party-Looks erwuchs bald seine erste eigene Kollektion. Als die Nachfrage stieg, half seine Cousine ihm beim Nähen. Mit 18 fing Abacaxi bei einem brasilianischen Label als Modedesigner an. 2020, noch während der Pandemie, gründete er seine Marke und aus "Abacaxis Laden" wurde Piña.
"Mut zu zeigen, wer wir sind"
Mittlerweile will Abacaxi mehr als "nur" die Flagge zurückerobern: Er will der Ästhetik aus den Favelas Respekt verschaffen. "Viele Leute finden meine Looks vulgär", sagt er. "Deshalb will ich umso mehr, dass die Leute verstehen, dass die Ästhetik aus den Favelas Kunst ist. Für mich ist das, was hier passiert, die größte Kunst."
Abacaxi wünscht sich, eines Tages seine Looks auf den Laufstegen dieser Welt zu präsentieren, an brasilianischen Models, an "crias" aller Körperformen und Geschlechter, genau wie er selbst.
Abacaxis Wunsch wird jeden Tag ein bisschen mehr Wirklichkeit. Denn schon heute tragen brasilianische Stars wie Anitta, Arielle Macedo oder McSoffia seine Kreationen. Inzwischen kann Abacaxi von seiner Arbeit leben. Für ihn ist Brazilcore aber mehr als nur ein Modetrend: "Für mich steht Brazilcore für die Freude und den Mut, zu zeigen, wer wir sind und woher wir kommen."