Mobiles Afrika: Leben für den täglichen Chat
15. August 2016Lagos, 2016: Der 23-jährige Timi Ajiboye zückt sein Handy. Er ist auf der Suche nach dem Bulbasaur, einem Pokémon. Im Verkehrschaos der nigerianischen Metropole ist das nicht ungefährlich. Ajiboye hat sich das neue Trendspiel Pokémon Go heruntergeladen - ein Spiel, bei dem die virtuellen Spielfiguren, sogenannte Pokémons, an Straßenecken lauern und eingefangen werden müssen. Aijboyes Pokémon-Enthusiasmus ist ein Symbol für die Revolution der Kommunikationstechnologien in Nigeria. Fast die Hälfte der Nigerianer haben in den vergangenen zwei Jahren das mobile Internet für sich entdeckt, sagen Studien.
Was war vor Pokémon Go?
Im Jahr 1999 hatten auf dem ganzen Kontinent etwa 80 Millionen Afrikaner ein Mobiltelefon. 2008 waren es bereits knapp 500 Millionen - etwa 60 Prozent der Gesamtbevölkerung. Heute gibt es laut dem Mobiltelefonunternehmen Ericsson knapp eine Milliarde Mobilfunkanschlüsse in ganz Afrika.
Woher die hohe Zahl? Die Erklärung: Weil Festnetzanschlüsse und Telefonleitungen dünn gesät sind, ist das Handy für viele alternativlos. Doch die Mobilfunknetze sind in vielen Regionen noch immer unzuverlässig und Auflademöglichkeiten begrenzt. Um dies aufzufangen, besitzt eine Person oft mehrere Handys und SIM-Karten von verschiedenen Netzanbietern.
Dass afrikanische Länder "mobile Nationen" sind, ist nicht neu. Das wirtschaftliche und soziale Leben basiert seit Jahrzehnten auf dem Handy. Immer mehr Afrikaner erledigen ihre Geldgeschäfte via SMS. Bei Präsidentschaftswahlen können Bürger per SMS Unregelmäßigkeiten melden. Bauern lassen sich die Weltmarktpreise für ihre Waren per Handy durchgeben. Dafür reichte bislang ein Handy ohne Internetverbindung.
Warum boomt das Smartphone erst jetzt?
"Smartphones waren lange Zeit sehr teuer, aber mittlerweile sind sie erschwinglich geworden", sagt Mark Walker von der Consulting-Agentur International Data Corporation. Die IDC berät internationale Internet- und Mobilfunkunternehmen zur Entwicklung der afrikanischen Märkte. Viele Smartphones kosten heute nur noch 50 bis 100 Dollar - In Indien gibt es sie sogar schon für vier Dollar.
Die Mittelklasse in vielen afrikanischen Ländern, besonders in Ostafrika, wächst rasant. Und damit die Zahl der Menschen, die vier bis zehn Dollar am Tag ausgeben können - Menschen, die sich ein Smartphone leisten können. Kombiniert mit der immer besseren Datennetzabdeckung erklärt sich der enorme Durchbruch, den die Smartphones zurzeit erleben. "Derzeit stehen Smartphones im Vergleich zu herkömmlichen Mobiltelefonen bei 50:50", sagt Walker. Noch hätten viele Afrikaner herkömmliche Mobiltelefone, weil sie günstiger und langlebiger seien. "Bald, wenn diese Probleme behoben sind, werden Mobiltelefone aussterben."
Hinzu kommt: "Die Bevölkerung in Afrika ist sehr jung, und ihr soziales Leben läuft über das Smartphone ab", sagt Erik van der Dussen, Analyst beim Wirtschaftsberater Deloitte in Nairobi. Mehr als die Hälfte der Afrikaner ist heute jünger als 25 Jahre alt. Und die wachsende Zahl junger Menschen schaut Fernsehen und surft im Internet - am liebsten mit mobilen Geräten. "Viele Jugendliche hungern lieber einen Abend und kaufen sich Handyguthaben, um mit ihren Freunden auf WhatsApp zu schreiben", so van der Dussen.
Bis 2017 wird sich einer Studie zufolge die Zahl der in Afrika genutzten Smartphones verdoppeln. Nach Angaben von Deloitte wird es im nächsten Jahr auf dem Kontinent voraussichtlich mehr als 350 Millionen internetfähige Handys geben. Eine große Chance für Handysoftware-Entwickler und afrikanische Startups, die mobile Geschäftsideen entwickeln - zugeschnitten auf die Bedürfnisse von Afrikanern. "Die Entwicklung von afrikanischem Content für Smartphones hat in den vergangenen drei Jahren extrem zugenommen", sagt Walker von IDC.
Und was bringt es - außer Pokémon und WhatsApp?
Handys nützen aber nicht nur wirtschaftlich. Seit mehr Mobiltelefone im Umlauf sind, wird in Afrika auch mehr protestiert. Das schreiben Wirtschaftswissenschaftler von der Queen Mary University in London in einer aktuellen afrikaweiten Studie. Protestbewegungen entstehen demnach vor allem dort, wo Mobilfunknetze flächendeckend besser funktionierten - und wo Menschen viel Frust aufbauen: Zum Beispiel, wenn es der Wirtschaft im Land schlecht geht oder autokratische Regierungen keinen Raum für Meinungsfreiheit lassen.
Über Mobiltelefone verbreiten sich Informationen zur politischen und wirtschaftlichen Situation sehr schnell. Und noch etwas: "Wenn ich als Handynutzer weiß, dass um mich herum viele Menschen über die Situation Bescheid wissen und bereit sind, zu protestieren, werde ich selbst auch eher dazu geneigt sein, mitzumachen", sagt Wirtschaftswissenschaftler Marco Manacorda.
Er geht davon aus, dass Afrikaner Massenproteste über mobiles Internet künftig noch besser koordinieren können. Der Fortschritt birgt aber auch eine Gefahr: "Regierungen können auch besser mit der Technologie umgehen und setzen sie immer öfter zur Überwachung ein", sagt Manacorda. In politisch entscheidenden Momenten, etwa bei Wahlen, legten sie häufig die Netzwerke lahm.
Derweil geht Timi Ajiboye in Lagos weiter auf Pokémon-Suche. Auch in Lagos funktioniert das Netz noch nicht ganz zuverlässig. Und das in Afrikas größtem Mobilfunkmarkt. Nigerianische Mobilfunkunternehmen haben sich verpflichtet, 90 Prozent des Landes mit mobilen Internetverbindungen zu versorgen.