Mit Turban und Kalaschnikow
22. Juni 2014So etwas hatte Bagdad schon lange nicht mehr gesehen: eine Parade schiitischer Kämpfer. In Uniformen, die der irakischen Armee gleichen, schwarzen Trainingsanzügen oder langen Gewändern mit Turban, schritten am Wochenende Tausende durch die Straßen von Sadr City, dem mit über zwei Millionen Einwohnern größten Bezirk Bagdads, wo fast nur Schiiten wohnen. Ein durchdringendes Kampfgeschrei durfte dabei nicht fehlen. Man sei bereit, ISIS die Stirn zu bieten, hörte man allenthalben. "Wir werden sie niedermetzeln!" Mit Gewehren, Pistolen, Granaten und Molotowcocktails. Ihr erstes Ziel ist Samarra. Dort wollen sie der sunnitischen Terrororganisation ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien) zuerst begegnen, um die für Schiiten heilige Moschee zu schützen. Das gibt den Kämpfern die nötige Motivation. Großajatollah Ali al-Sistani hatte erneut dazu aufgerufen, in den Kampf gegen den Feind zu ziehen, der die heiligen Stätten und die Einheit Iraks bedrohe. Die Schiiten sind nun zu allem bereit.
Die erste Frontlinie wird also in Samarra verlaufen. Hier soll ISIS gestoppt und zurückgedrängt werden. Die 110 Kilometer nördlich von Bagdad gelegene Stadt ist für die Iraker zum Albtraum geworden. Das Spiralminarett dort ist weltberühmt, die al-Askari-Moschee ein Heiligtum der Schiiten. Obwohl die meisten der 160.000 Einwohner der Stadt Sunniten sind, ist sie für die Schiiten ein unverzichtbares spirituelles Zentrum. Im Februar 2006 zerstörte eine Bombe die goldene Kuppel der al-Askari Moschee, was zum Ausbruch des Konfessionskrieges führte. Tausende Sunniten und Schiiten mussten mit dem Leben bezahlen. Entsprechend groß ist die Angst, dass sich das wiederholen könnte. Die Terrorgruppe ISIS folgt bei ihren Eroberungszügen der Hauptstraße, die von Mossul nach Bagdad führt. An der Autobahn nach Mossul liegen Tikrit, Saddam Husseins Heimatstadt, Baiji, die Raffinerie und Samarra. Nachdem Mossul vor zwei Wochen als erste Stadt eingenommen wurde, folgte Tikrit. Um die Raffinerie in Baiji, die ganz Bagdad mit Strom und Treibstoff versorgt, wird weiterhin heftig gekämpft. Siegesmeldungen der Rebellen und der irakischen Armee überschlagen sich. Die Gefechtslage ist unübersichtlich. Die Raffinerie ist abgeschaltet.
Unübersichtliche Lage
Bei den Nebenschauplätzen wie der Hauptstadt der Provinz Dijala, Bakuba, die im Nordosten direkt an Bagdad angrenzt und dem Grenzübergang zu Syrien, Al Kaim, der von den Rebellen eingenommen sein soll, ist die Zuordnung schwierig. Al Kaim liegt in der Provinz Anbar, die die ISIS-Extremisten bereits im Januar größtenteils unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Viele Flüchtlinge aus Al Kaim sind in Lagern in den Außenbezirken von Bagdad untergebracht. Einige sagen, dass nicht ISIS den Grenzposten übernommen habe, sondern Mitglieder der dortigen Stämme. Auch die Kämpfe in Bakuba gehen nicht unbedingt nur auf das Konto von ISIS. Die Provinz Dijala ist in den schlimmen Terrorjahren 2006/07 und 2008 immer wieder zum Schauplatz heftigster Kämpfe zwischen den Ethnien geworden, die dort leben. Dijala wird manchmal auch "Kleinirak" genannt, weil alle Volksgruppen des Landes dort leben und miteinander um Macht und Einfluss rivalisieren.
Doch was am Wochenende in Sadr City geschah, ist die Wiedergeburt einer Ära, die die Bagdader für längst überwunden glaubten. Schiitenführer Moktada al-Sadr rief seine Mahdi-Armee wieder ins Leben. Diese Miliz wurde ursprünglich im Juni 2003 gegründet, um gegen die amerikanische Besatzungsmacht zu kämpfen und bekam nach eigenen Angaben bis zu einer halben Million Anhänger. Jaish al-Mahdi, wie sie auf Arabisch heißt, war berüchtigt und gefürchtet in Bagdad und trug maßgeblich zur Eskalation der blutigen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten bei, die letztendlich zum Bürgerkrieg führten. Todesschwadronen führten oft willkürliche Erschießungen durch, Geiseln wurden in Sadr City festgehalten, bis die Bedingungen erfüllt waren. Dabei ging es anfangs nicht um Lösegeld, sondern um politische Forderungen wie die Freilassung von Gefangenen oder den Abzug der US-Truppen. Analog zur sunnitischen Terrororganisation Al Kaida, verübte Jaish al-Mahdi Tausende von Bombenanschlägen, zündete Sprengsätze am Straßenrand, feuerte Mörsergranaten Richtung Grüne Zone ab, wo die Amerikaner und die irakische Regierung ihre Administrationen hatten. Was die Mahdi-Armee von Al Kaida unterschied, waren die Selbstmordattentäter. Für die sunnitische Terrororganisation waren sie zum Merkmal geworden, die Schiiten lehnten Selbsttötungen ab.
Wenn jetzt die Mahdi-Armee gegen ISIS kämpfen will, verheißt das für viele Einwohner Bagdads nichts Gutes. Schiiten wie Sunniten haben Angst vor einer erneut heraufziehenden Konfrontation, die sich nicht mehr kontrollieren lässt. Nach drei Jahren blutigem Bürgerkrieg verkündete Moktada al-Sadr 2008 das Ende seiner Armee und forderte seine Kämpfer auf, die Waffen niederzulegen. Auch dies geschah auf Intervention der grauen Eminenz in Nadjaf, Großajatollah al-Sistani, der dem jungen Schiitenrebellen - Moktada al-Sadr war damals noch keine 40 Jahre alt - eine Beteiligung am politischen Prozess im Irak in Aussicht stellte, was auch geschah. Im letzten Kabinett waren sechs Minister der Sadristen vertreten, wie seine Anhänger inzwischen genannt werden. Im Parlament saßen 40 seiner Abgeordneten. Mit den Stimmen der Sadristen erhielt Nuri al-Maliki eine zweite Amtszeit. Doch auch Sadr nennt den Premierminister inzwischen einen "neuen Diktator" und überwarf sich mit ihm. Ist die Wiederbelebung der Mahdi-Armee nun die Rettung in der Not für Maliki oder hat Moktada al-Sadr Höheres im Sinn?