Integration von Roma durch Bildung
25. September 2013Bereits während seiner ersten Schultage in Skopje wurde Nedjo Osman bewusst, dass er anders war als die meisten seiner Mitschüler: "Morgens haben mich die Kinder mit einem Spottlied empfangen: Es besagte, dass ich dreckig und verlaust sei. Da erfuhr ich zum ersten Mal, dass ich ein 'Zigeuner' bin." Auch später an der Film- und Theaterakademie in Novi Sad musste er immer wieder gegen die Vorurteile gegenüber Roma ankämpfen. Doch er hatte sich durchgesetzt - zunächst als einer der etwa zehn Roma in seiner Schule und dann als einziger Roma an der Theaterakademie.
Vorurteile und falsche Politik
All dies ereignete sich im sozialistischen Jugoslawien der 1960er Jahren - es könnte aber genauso heute in einem europäischen Land passieren. Denn die Vorurteile gegenüber Roma bestehen immer noch. "Die Roma werden als Randgruppe behandelt, es wird generell angenommen, dass sie nicht integrationswillig und -fähig sind", beklagt Rumyan Russinov, bulgarischer Roma-Aktivist und langjähriger Leiter der Roma-Programme des 'Open Society'- Instituts in Budapest. Die 'Open Society'-Institute sind eine Gruppe von Stiftungen des amerikanischen Milliardärs George Soros, die Initiativen der Zivilgesellschaft in Europa unterstützen.
Negative Einstellungen lägen oft in der Roma-Politik der jeweiligen Länder begründet, auch im Bildungsbereich, betont Russinov. Die Klischees führen zu Diskriminierung und Segregation. Da ein großer Teil der Roma bereits während der Diktaturen in Ost- und Südosteuropa in getrennten Vierteln oder in ländlichen Regionen lebte, wurden auch die dortigen Schulen hauptsächlich von Roma besucht. Ähnliche Formen von Segregation gebe es noch heute in Ländern wie Kroatien, Ungarn oder Rumänien, kritisiert Russinov.
Die jeweilige Mehrheitsbevölkerung möchte nicht, dass die eigenen Kinder diese Schulen besuchen. An anderen Schulen wurden vor dem Ende der Diktaturen in Ost- und Südosteuropa manchmal spezielle Klassen für Roma eingerichtet. Die Qualität des Unterrichts war dort viel schlechter. In einigen ehemaligen Ostblock-Ländern kamen die Roma-Kinder sogar an Sonderschulen. Seit dem demokratischen Wandel in diesen Ländern hat sich die Situation sogar noch verschärft. "Im sozialistischen Bulgarien besuchten etwa 50 Prozent der Roma-Kinder Schulen, an denen sie nicht zusammen mit den Kindern der Mehrheitsbevölkerung unterrichtet wurden. Heute sind es sogar 75 Prozent", so Russinov.
In der Tschechischen Republik werden immer noch Tausende Roma-Kinder an sogenannten "praxisorientierten Schulen" unterrichtet, die für Kinder mit leichter geistiger Behinderung konzipiert sind. Auch sechs Jahre nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen den tschechischen Staat wegen dieser Praxis hat sich an der Situation wenig geändert, stellt Amnesty International in einem Bericht von 2012 fest.
Teufelskreis von Armut und Ausgrenzung
Dass sich die Bildungssituation der Roma in den ehemaligen sozialistischen Ländern nach der demokratischen Wende stark verschlechtert hat, bestätigt auch eine Studie der Soziologin Ilona Tomova von der 'Bulgarischen Akademie der Wissenschaften' am Fallbeispiel Bulgariens. Wegen der neoliberalen Politik der postkommunistischen Jahre verringerte der Staat seine Sozialausgaben.
"Im Bildungsbereich wirkte sich diese Politik konkret auf die Nachmittagsbetreuung, den Vorschul-Unterricht sowie die Verteilung kostenloser Lehrbücher aus", so die Expertin. Diese Maßnahmen sind für sozial schwachen Familien, zu denen vor allem die Roma gehören, besonders wichtig. Nach der Wende waren sie besonders stark von der zunehmenden Verarmung betroffen: Nach Statistiken der Weltbank lebten 1997 ein Drittel der ethnischen Bulgaren und über vier Fünftel der Roma in Armut. Auch spätere Datenerhebungen belegen, dass sich diese Tendenz fortgesetzt hat.
Zur Armut komme auch das Problem der Sprache, betont Tomova. Die meisten Roma wachsen nicht mit der offiziellen Landessprache auf, viele Roma-Kinder kommen erst in der Schule damit in Berührung. Nach dem Unterricht gehen sie nach Hause zurück, also in Haushalte, in denen diese Sprache nicht gesprochen wird, in denen die Eltern ein niedriges Bildungsniveau haben und ihre Kinder nicht fördern können. Ohne zusätzliche Bildungsangebote seien diese Roma-Kinder nicht in der Lage, die Anforderungen der Schule zu erfüllen und schieden daher früh aus dem Bildungssystem aus, meint die Soziologin Tomova.
Akzeptanz für Roma-Politik schwindet
Ohne Bildung lässt sich der Teufelskreis von Armut und gesellschaftlicher Ausgrenzung kaum durchbrechen. Im letzten Jahr veröffentlichte die EU-Kommission einen einheitlichen Rahmen für nationale Strategien der Mitgliedsstaaten zur Integration der Roma, in dem die Verbesserung der Bildungssituation einer der zentralen Punkte ist. Denn in vielen Mitgliedstaaten stellen die Roma einen beträchtlichen Anteil der Kinder und Jugendlichen im Schulalter und somit der künftigen Arbeitnehmer. Ohne ein entsprechendes Bildungsniveau schwinden ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Doch diese Bemühungen kämen etwas spät, kritisiert Rumyan Russinov: "Während der Beitrittsverhandlungen mit der EU waren viele osteuropäische Länder williger, Integrationsmaßnahmen für Roma umzusetzen. Jetzt beharren sie viel stärker auf ihre Souveränität."
Seit Anfang der Wirtschafts-Krise habe sich zudem die gesellschaftliche Akzeptanz für diese Integrationsmaßnahmen für Roma verändert. Gerade für Rechtspopulisten müssten dann die Roma als Sündenböcke für verschlechterte Lebensbedingungen in der Krise herhalten, kritisiert Russinov.
Inklusion als einziger Ausweg
Die Ausgrenzung von Roma-Kindern zu beseitigen ist das Hauptanliegen von Aktivisten wie Rumyan Russinov. Ein wichtiger Durchbruch sei durch Projekte einer Nichtregierungsorganisation für Roma, die durch die Soros-Stiftung in Budapest unterstützt wurde, in der bulgarischen Stadt Vidin erfolgt, so der Experte. Zum ersten Mal nach der Wende habe man dort mehrere Hundert Kinder aus Roma-Vierteln an regulären Schulen eingeschrieben.
Auch Nedjo Osman setzt sich für die Inklusion der Roma in den normalen Schulunterricht in Deutschland ein. Hier lebt er seit Anfang der 1990er Jahre. Damals trieb der Jugoslawien-Konflikt viele Roma nach Deutschland, wo sie den gesellschaftlichen Anschluss suchten. So begann er neben seiner schauspielerischen und journalistischen Tätigkeit auch als Mediator bei Bildungsprojekten für Roma zu arbeiten. Inzwischen hat er mehrere Projekte in verschiedenen Städten betreut und weiß, dass der gemeinsame Unterricht von Roma und Kindern aus der Mehrheitsgesellschaft der einzige Weg zu erfolgreicher Integration ist: "Nur so können sie sich als Teil der Gesellschaft fühlen."