Misereor warnt: "Der Hunger rückt näher"
23. Juli 2020Drei Mal hat Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer des Hilfswerks Misereor, in der vergangenen Woche mit Partnern in Lateinamerika telefoniert. Drei Mal, sagt er, sei irgendwann mal von der anderen Seite der Satz gekommen "Wir haben Hunger". Spiegel, der selbst rund 13 Jahre in Brasilien lebte, ist erschrocken und warnt: "Der Hunger rückt näher."
Misereor ist das größte kirchliche Hilfswerk in Deutschland. In Jahr 2019 setzte es nach eigenen Angaben in 85 Ländern 232,3 Millionen Euro ein. Eigentlich wäre die Bilanz des kirchlichen Hilfswerks eine Zwischenbewertung der "ökologischen Transformation", des notwendigen Umstiegs angesichts der Klimakrise. Doch die doppelte Krise von Klimawandel und Corona-Pandemie verschärft die Lage - egal, ob das Hilfswerk nach Lateinamerika, nach Afrika oder nach Asien blickt. Lateinamerika bewertet Spiegel als "Kontinent der sozialen und ökologischen Brände". Die Corona-Pandemie wirke dabei wie ein "katastrophaler Brandbeschleuniger": Die Abholzung des Regenwaldes nehme zu, politische Spannungen eskalierten, indigenen Gemeinschaften drohe die Auslöschung.
Überforderte Gesundheitssysteme
Für Afrika und Asien gelte, dass die Folgen des Lockdowns bislang gravierender seien als die des Virus selbst. Tagelöhner blieben ohne Arbeit, Lieferketten brächen ab, die Versorgung werde knapp. Schon bestehende Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, so der Misereor-Chef, "treten durch die Corona-Krise noch deutlicher zu Tage".
Spiegel verweist auf die schlechte Gesundheitsversorgung in vielen Ländern. So gebe es im Südsudan überhaupt keine Intensivstation. Und in Bolivien, einem Land mit gut elf Millionen Einwohnern, stünden gerade mal elf Betten zur Verfügung für Menschen, die künstliche beatmet werden müssten. "Zu dieser Versorgung haben wiederum nur Menschen Zugang, die privat versichert sind. Das ist lediglich kleine Minderheit." Von daher fordert Spiegel: "Die Fragen der Gesundheit und der Ernährung muss aus der Marktlogik herausgenommen werden, um substantielle Grundbedürfnisse des Menschen wahrzunehmen und zu erfüllen."
Schlimmer als die Finanzkrise
Der Präsident des Umweltbundesamtes, Dirk Messner, sieht ebenfalls große Risiken, aber auch Chancen. Er erwartet für die kommenden Monate "grundlegende Weichenstellungen zum Guten oder zum Schlechten". Die Corona-Krise betrifft nach seiner Einschätzung Entwicklungsländer "deutlich stärker als die Finanzkrise 2008/2009 - verheerend." In sehr vielen Ländern "explodieren" die sowieso schon schwachen Gesundheitssysteme.
Messner verweist auf die bis zu zwölf Billionen Dollar, die die USA zur Bewältigung der Corona-Krise aufbringen wollten. Falls diese Mittel nachhaltig und im Sinne einer wirtschaftlichen Transformation eingesetzt würden, sei das eine Weichenstellung zum Guten. Wenn es dabei um Nationalismus statt um Multilateralismus und um abgestimmtes internationales Handeln gehe, werde es schwierig. "Dann droht ein turbulentes und schwieriges 21. Jahrhundert." Messner ist Mitglied im Misereor-Beirat.
Pandemie-Hilfe für arme Länder
In Europa ging es beim Ringen der Staats- und Regierungschefs zuletzt nicht um Billionen, aber doch um eine Summe von 750 Milliarden Euro. Den Anteil davon für internationales Engagement stuft der Vorsitzende der Katholischen Zentralstelle für Entwicklungszusammenarbeit, Prälat Karl Jüsten, als ernüchternd ein: Nur eine Milliarde Euro sei für die Bekämpfung der Corona-Pandemie in ärmeren Ländern und für internationale Entwicklungszusammenarbeit vorgesehen. "Die EU muss noch eine Schippe drauflegen, damit sie sich solidarisch zeigt." Und sie müsse Entwicklungszusammenarbeit als wesentlichen Pfeiler ihrer Politik ansehen.