Migrationspolitik: Ungarn als Vorbild?
11. September 2024Deutschland kontrolliert ab Montag an sämtliche Grenzen, um unerlaubt einreisende Migranten und Asylsuchende zu finden. Dies sei Teil der "größten Wende" in der Asylpolitik, wie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Bundestag am Mittwoch noch einmal bekräftigte. Direkte Zurückweisungen von Asylsuchenden nach Österreich, Polen oder Frankreich soll es aber nicht geben. Diese hatte die größte Oppositionsfraktion CDU/CSU verlangt. Nach Ansicht von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) würden solche direkten Zurückweisungen gegen geltendes Asylverfahrensrecht und die sogenannten Dublin-Regeln in der Europäischen Union verstoßen.
Orban bestärkt Scholz
Beifall für seine erneuten Grenzkontrollen an allen deutschen Landgrenzen erhielt Kanzler Scholz ausgerechnet vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban, der seit Jahren versucht, jegliche Migration von außerhalb der EU nach Ungarn zu unterbinden. Mit dem Hashtag "StopMigration" schrieb Orban auf X an Scholz: "Willkommen im Klub!". Welchen Klub der nationalkonservative Regierungschef damit meint, ließ er offen.
Ungarn verstößt gegen EU-Recht
In der Asylpolitik ist Orban in der EU das einzige Mitglied in einem "StopMigration"-Klub. Ungarn verstößt seit Jahren regelmäßig und systematisch gegen europäisches Recht. Das hat der Europäische Gerichtshof seit 2015 mehrfach festgestellt. Erst im Juni verhängte das Gericht eine Strafe von 200 Millionen Euro gegen die Regierung in Budapest, weil Viktor Orban sich weigert, einem Urteil aus dem vergangenen Jahr nachzukommen. Der EuGH hatte Ungarn aufgefordert, seine Praxis zu ändern, Asylanträge nur noch in den ungarischen Botschaften in Serbien oder der Ukraine entgegenzunehmen. Nach EU-Recht müssen Asylbewerber ihren Antrag direkt an der Grenze stellen können.
Viktor Orban akzeptiert das Urteil aus Luxemburg nicht und weigert sich auch, die fällige Strafe zu zahlen. Deshalb wird die EU-Kommission voraussichtlich ab nächster Woche die Zahlungen aus dem EU-Haushalt kürzen. Pro Tag ist laut EuGH-Urteil eine Strafe von einer Million Euro fällig.
Orban beharrt auf nationalem Alleingang
Viktor Orban hat vergangene Woche bei einer Diskussionsveranstaltung in Italien darauf bestanden, dass das EU-Mitglied Ungarn allein über seine Einwanderungs- und Asylpolitik entscheiden könne. Er lehne einen Mix verschiedener Zivilisationen ab, sagte Orban in Cernobbio. "Manche Dinge sollten nicht in Brüssel entschieden werden. Wer kann definieren, ob ein Staat mit Migranten leben sollte oder nicht? Das müssen das Volk und die gewählten Führer entscheiden, nicht das imperialistische Zentrum einer zwangsweisen Integration", sagte Viktor Orban, der derzeit auch der Ratsvorsitzende der EU ist. Der dienstälteste Regierungschef Europas, dessen Land erhebliche rechtsstaatliche Defizite aufweist, übersieht jedoch, dass Asylpolitik europäischem und nicht nationalem Recht allein unterworfen ist.
Ungarn hat seine Grenze zu Serbien, die zugleich EU-Außengrenze ist, mit Zaun und Stacheldraht hermetisch abgeriegelt. Zwischenzeitlich hatten die ungarischen Behörden Transitzonen direkt an der Grenze im "Niemandsland" eingerichtet, in denen Asylbewerber während des Verfahrens teilweise monatelang inhaftiert wurden. Auch diese Praxis hatte der Europäische Gerichtshof für rechtswidrig erklärt und gestoppt. Doch Viktor Orban hat sein Ziel erreicht. Im vergangenen Jahr gewährte Ungarn genau fünf Menschen Asyl. Derzeit sind 15 Asylverfahren anhängig.
Klarer Trend: Weniger Ankünfte erwünscht
Die Zahl der in Ungarn ankommenden Asylsuchenden ist also dramatisch niedrig. Eine deutliche Reduzierung wünscht sich auch Bundeskanzler Olaf Scholz. Im Mai 2024 waren 365.000 Asylverfahren in Deutschland anhängig. "Wir müssen uns aussuchen können, wer nach Deutschland kommt. Das sage ich hier ganz ausdrücklich. Und deshalb gehört auch dazu, dass wir das Management der irregulären Migration hinkriegen, dass wir die Zahl derjenigen, die irregulär nach Deutschland kommen, reduzieren. Und dass wir diejenigen, die nicht bleiben können, auch wieder zurückführen", sagte Olaf Scholz am Mittwoch (11.09.) im Bundestag. Der Trend geht in Richtung der ungarischen Position, mehr Kontrolle und weniger Einreisen zu erreichen. Die Mittel sind allerdings nicht vergleichbar.
Verlagerung an Außengrenzen
Auf europäischer Ebene haben die Mitgliedsstaaten (darunter auch Ungarn) einen "Migrationspakt" beschlossen, der laut der zuständigen EU-Kommissarin Ylva Johansson zum Ziel hat, die Zahl der Ankünfte zu reduzieren und die Zahl der Rückführungen und Abschiebungen zu erhöhen. Asylverfahren sollen beschleunigt und möglichst an die EU-Außengrenzen in geschlossene Aufnahmezentren, ähnlich den ungarischen Transitzonen, verlagert werden.
Das Grundrecht auf Asyl soll gewährleistet bleiben. Überlastete Einreisestaaten wie Griechenland oder Italien sollen Asylsuchende in andere EU-Staaten überstellen dürfen. Weil hier Solidarität und die Aufnahme von Schutzbedürftigen gefordert wäre, lehnt Ungarn den Migrationspakt nun doch ab und weigert sich, ihn rechtlich umzusetzen. Diesem EU-"Klub" möchte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban also auf keinen Fall angehören.
Mehr noch: Orban droht damit, die wenigen Asylsuchenden und Flüchtlinge, die es noch nach Ungarn schaffen, mit Bussen in die belgische Hauptstadt Brüssel zu bringen und sie dort bei EU-Institutionen abzuladen. Die EU-Kommission wies diese Drohung am Dienstag als Verstoß gegen alle Regeln scharf zurück.
Die neuen deutschen Grenzkontrollen stoßen bei anderen EU-Politikern auf Kritik. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk nannte mögliche Zurückweisungen von Migranten nach Polen "inakzeptabel". Sie sind rechtlich möglich, wenn die zurückgewiesene Person kein Asyl in Deutschland beantragt und kein gültiges Visum vorweisen kann. Österreichs Bundeskanzler Nehammer kündigte an, sein Land wolle gegebenenfalls auch Zurückweisungen aussprechen. Die deutsche Auslegung des Asylverfahrensrechts sei "eigenwillig".