Migrationsfalle Mexiko
28. Januar 2019Manuel Leba Alvarado sitzt auf dem Bett, das er sich mit seinem 13-jährigen Sohn Jairo teilt. Das Bett ist der untere Teil eines Hochbetts und ist eigentlich nur für eine Person gedacht. "Es gibt nicht viel Platz", sagt Alvarado, "aber das ist nicht so schlimm." Das Bett steht in "Tochan", so heißt die Herberge für mittelamerikanische Migranten in Mexiko-Stadt.
Alvarado sucht genauso wie eine wachsende Zahl an Mittelamerikaner Asyl in Mexiko. Die meisten wissen nicht, ob sie bleiben werden. "Ich habe Familie in Honduras - drei weitere Kinder", sagt Alvarado, "Hier arbeite ich als Aushilfe im Bauwesen und verdiene 215 Pesos am Tag." Die umgerechnet zehn Euro reichten aber nur zum Überleben. "Ich kann kein Geld zu meiner Familie nach Hause schicken", sagt Alvarado.
Laut Claudia Leon Ang vom jesuitischen Migrationsdienst in Mexiko-Stadt wollen die meisten Mittelamerikaner nicht in Mexiko leben, aber "sie können nicht in die USA, und zurück könnten sie oft auch nicht." Im Grunde genommen seien sie gefangen. Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge kommen mittlerweile jedes Jahr bis zu einer halben Million Mittelamerikaner ohne Registrierung nach Mexiko. Viele überqueren den Fluss Suchiate an der Grenze zwischen Guatemala und Mexiko. Die Überfahrt erfolgt im Floß und kostet umgerechnet 90 Eurocent.
Flucht vor brutalen Banden
Die Mehrheit flieht aus den Ländern des nördlichen Dreiecks: Guatemala, Honduras und El Salvador. Sie zählen zu den gewalttätigsten Ländern der Welt. Vor allem die zwei Banden "Mara Salvatrucha" und "Mara 18" morden meist ungestraft, entführen und vergewaltigen. Außerdem verlangen sie "renta", also Erpressungsgeld von Unternehmen und Menschen. Denn oft zahlen die auch eine "renta", nur um in einer Nachbarschaft leben zu dürfen. Auf die Frage, was passieren würde, wenn sich jemand weigerte zu zahlen, hebt Jonathan Arnoldo Varias - ein Mann aus El Salvador, der in der Herberge Tochan lebt - seine Hand an den Kopf und imitiert eine Waffe, die mehrmals den Abzug drückt.
Noch vor 2014 konnte man Tausende Mittelamerikaner auf Güterzügen sehen. Der Zug wird "la Bestia" genannt - die "Bestie". Der illegale Ritt auf den Zügen ist für viele eine günstige, schnelle, aber auch riskante Transportmöglichkeit in Richtung USA. Etliche Menschen verletzten sich oder starben sogar beim Auf- und Abstieg des fahrenden Zuges.
Doch seit dem 14. Juli 2014, als der damalige mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto das "Programa Frontera Sur" verkündete, ist die Südgrenze deutlich stärker bewacht. Peña Nieto beteuerte, das Programm diene dazu, die Migranten zu schützen. Doch die Realität sehe anders aus, sagen NGOs. Sie kritisieren die zunehmende Militarisierung der Grenze. Auch die illegale Fahrt auf der "Bestie" ist seitdem schwerer geworden. Dennoch hat sich die Zahl der Migranten kaum verringert - statt auf dem Zug bewegen sich die Menschen nun größtenteils auf alternativen Wegen durch Mexiko.
Alvarado und seinen Sohn haben sich bis zu zwölf Stunden täglich zu Fuß durch Mexiko geschlagen. "Wir liefen drei oder vier Stunden", sagt Alvarado, "dann machten wir eine Pause." Für jeden Mittelamerikaner ist die Reise durch Mexiko mit großen Risiken verbunden. Migrantenorganisationen schätzen, dass 80 Prozent angegriffen werden, 60 Prozent der Frauen werden vergewaltigt. Alvarado hatte trotzdem das Gefühl, er müsse seinen Sohn mitnehmen. Trotz der Gefahr, dass die Banden häufig gewaltsam Jungen rekrutieren, die erst zehn Jahre alt sind.
"Die Banden werden mich töten"
Bis zu US-Präsident Donald Trumps Amtsantritt und seiner zunehmender rigoroser Einwanderungspolitikwar das Ziel der allermeisten Mittelamerikaner die USA. Sie hofften dort, Geld für die Familien zu verdienen. Seit diese Hoffnung mehr und mehr aussichtslos ist, betrachten viele Mexiko als Zielland. Im Jahr 2015 beantragten 3400 Menschen aus Mittelamerika Asyl, in den ersten sechs Monaten des Jahres 2018 waren es bereits 14.000. Dabei ist vielen nicht einmal klar, ob Mexiko wirklich eine sinnvolle Option ist.
"Die meisten Mittelamerikaner, die in Mexiko ankommen, haben nicht viel Bildung", sagt Francisco Senties, der bei der Organisation "Casa Refuigado" in Mexiko City arbeitet. Das bedeutet, dass sie bei der Arbeitssuche nur zwei Möglichkeiten haben: Arbeiten für den Mindestlohn, der in der Hauptstadt pro Tag bei umgerechnet knapp fünf Euro liegt, oder im informellen Sektor.
Aber zuvor müssen sie überhaupt einen Job bekommen. "Sie hören uns sprechen und können an unserem Akzent erkennen, dass wir Migranten sind", sagt Joel Linares Lizana. "Manchmal bekommen wir deshalb keine Arbeit." Edgar Galeas Morena fügt hinzu: "Manchmal arbeitest du, und dann bezahlen sie dich nicht, oder sie zahlen dir weniger."
Oscar Molina Molina stand vor einer weiteren Herausforderung. "Ich bin 69 Jahre alt und es ist schwer, Arbeit zu finden", sagt er. Seit fünf Jahren lebt er nun in der Tochan-Herberge, seit er seine Wohnung verlor, weil er die Miete nicht mehr zahlen konnte. Er kümmert sich um die Instandhaltung der Herberge, dafür bekommt er Unterkunft und Verpflegung. Außerdem hat er einen kleinen Arbeitsbereich, wo er Schlüsselanhänger herstellt, die er für umgerechnet knapp anderthalb Euro verkauft. Eine Rückkehr nach El Salvador sei für ihn unmöglich. "Die Banden", sagt er, "werden mich töten."
Einige Mittelamerikaner haben trotz aller Gefahren beschlossen, zurückzukehren. Varias, der in El Salvador Frau und drei Kinder hat, ist einer von ihnen. "Ich muss zurück", sagt er. "Ich kann hier nicht genug verdienen, um meine Familie zu unterstützen. Es ist unmöglich. Es ist sehr gefährlich in El Salvador, aber es gibt keine andere Möglichkeit."
Traum von den USA bleibt
Diskriminierung und schlechte Bezahlung sind aber nicht die einzigen Probleme der Migranten. Viele sagen, Mexiko sei genauso gefährlich wie ihre Heimatländer. Eine Studie von Ärzte ohne Grenzen aus dem Jahr 2017 stellte fest, dass Mittelamerikaner "durch die strengeren US-amerikanischen Grenzkontrollen auch mehr Gewalt in Mexiko ausgesetzt sind."
Unabhängig von dieser Politik träumen viele Migranten immer noch, es in die USA zu schaffen. Carlos Cuellar arbeitete zehn Jahre lang als Dachdecker in Brookyln, bevor er 2012 nach El Salvador zurückgeschickt wurde. Drohungen von Banden zwangen ihn, es immer wieder zu versuchen, in die USA zurückzukehren.
Obwohl er noch vier weitere Male abgeschoben wurde, will er es abermals versuchen. "Ich habe meine Mutter, vier Schwestern und meine Tochter in El Salvador und ich kann nicht genug verdienen, um ihnen zu helfen", sagt Cuellar. "Wenn ich die Grenze übertrete, werde ich aufgeregt sein, denn es ist mein Traum, Geld zu verdienen. Ich werde denken: Jetzt kann ich meiner Familie helfen und dann gehe ich los und bestelle mir eine große Pizza mit Fleisch drauf und werde sie komplett aufessen."