Migration: Griechenland gibt den Ton an
30. März 2021Ylva Johansson und Notis Mitarakis haben grundverschiedene Vorstellungen von dem, wie Europa mit Migration umgehen sollte. Während der griechische Migrationsminister für seine harte Hand bekannt ist, beruft Ylva Johansson, EU-Kommissarin für Inneres, sich gern auf europäische Ideale. Menschenrechte, Transparenz, würdevolle Unterbringung und Freiheit: All dies ist auf Lesbos und den anderen griechischen Insel seit Jahren Mangelware, auch heute. Seit Monaten häufen sich Anschuldigungen gegen Athen hinsichtlich illegaler Abschiebungen von Asylsuchenden. Menschenrechtler kritisieren zudem die Zustände im temporären Flüchtlingslager Kara-Tepe, das nach dem verheerenden Brand im Lager Moria errichtet worden war.
"Es besteht kein Wille"
Bei einem gemeinsamen Besuch auf Lesbos ging es Johansson und Mitarakis vor allem darum, Geschlossenheit zu zeigen. Beide sprachen sich mit Vornamen an, man bedankte sich gegenseitig für die gute Arbeit. Unstimmigkeit herrschte erst, als ein aktueller UNHCR-Bericht erwähnt wird, in dem das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen die Athener Regierung mit Fällen illegaler Abschiebung konfrontiert. Mitarakis wies dies in gewohnter Manier von sich. Johansson erwiderte, sie sei besorgt und würde sich wünschen, Griechenland würde sich mehr um Aufklärung bemühen. Ansonsten nickte der griechische Migrationsminister eifrig, immer dann, wenn Johansson von "guten Lebensbedingungen" sprach, oder davon, dass "Menschen, die den Asylauflagen entsprechen, willkommen sind". Über drei Milliarden Euro hatte Brüssel Griechenland für die Instandhaltung der Hotspots zur Verfügung gestellt. Weitere Millionen flossen für das neue, temporäre Lager Kara Tepe.
Fabian Bracher von der Nichtregierungsorganisation "Choose Love" fragt sich, wo dieses Geld geblieben ist. Anstelle von festen Anschlüssen würde Wasser täglich mit 17 großen Trucks ins Camp gefahren. Für 7000 Menschen gebe es derzeit nur 36 reguläre Duschen. Ansonsten sei Körperhygiene nur über Kübelduschen möglich. Die Stromversorgung sei unzureichend. Die Menschen hätten den ganzen Winter über nicht heizen können. Zusätzlich habe die Überforderung der Stromnetze zu Bränden geführt.
Dafür, dass sich seit September an den Zuständen kaum etwas geändert hat, gibt es für Bracher nur eine Erklärung: "Es besteht kein Wille, um die Situation so zu verbessern, dass die Menschen eine würdige Unterkunft haben. Schon Ende September hat man darüber diskutiert, was in punkto Stromversorgung gemacht werden muss, um über den Winter Heizungen zu haben. Das wurde nicht gemacht. Verschiedene Organisationen haben angeboten, das Problem zu regeln. Ihnen wurde dafür aber keine Bewilligung gegeben."
Kontrollierter Ein- und Ausgang
Brüssel hält sich generell zurück mit Kritik an Griechenland. Dies wohl auch aus Mangel an Alternativen. Bei der Pressekonferenz findet Johansson deutliche Worte an die EU und die Uneinigkeit in der Flüchtlingspolitik: "Über Jahre haben wir keine gemeinsame Lösung gefunden." Die griechischen Inseln hätten darunter besonders gelitten. Dann dankt sie Notis Mitarakis für seine "praktischen Lösungen". Was genau sie damit meint, erwähnt sie nicht.
Mit großer Spannung wurde erwartet, wie sich beide Parteien über die Form der neuen Flüchtlingscamps äußern würden, die Athen mit immerhin 276 Millionen Euro aus Brüssel auf den sogenannten Hotspot-Inseln bauen wird. Mitarakis hatte sich in der Vergangenheit dazu klar geäußert: "Es wird sich um geschlossene Einrichtungen handeln. Doppelte Bezaunung im Natostil, streng kontrollierter Eingang und Brandschutzsysteme." Johansson hatte bisher ein geschlossenes System kategorisch ausgeschlossen.
Hinter geschlossenen Türen mag man sich weiter uneinig sein. Für die Öffentlichkeit aber hat man sich auf eine gemeinsame Sprache geäußert: "Kontrollierter Ein- und Ausgang" lautet der Kompromiss, was bedeutet, dass Asylbewerber zu bestimmten Zeiten Ausgang haben. Wohin sie gehen sollen, ist aber fraglich. Nach vielen Konflikten zwischen Migranten und der Lokalbevölkerung auf Lesbos liegt der Bauplatz des neuen Camps außer Sichtweite einheimischer Siedlungen. Und zu Fuß dürften die nächsten Siedlungen kaum zu erreichen sein. Das Prinzip lautet Abschottung.
Dies aber soll für niemanden ein Dauerzustand sein. Beide Politiker drängen auf "schnelle und faire Asylverfahren." Migranten sollen in Zukunft von den neuen Camps aus auch Asyl in anderen europäischen Ländern beantragen können. Außerdem müssten abgelehnte Asylbewerber schnell abgeschoben werden. Dabei hoffen sie, dass die Türkei sich wieder dazu bereiterklären wird, abgelehnte Asylbewerber zurückzunehmen, so wie es im Türkei-EU-Deal vorgesehen war, den der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Februar 2019 einseitig aufgekündigt hatte.
Zweifel an fairen Asylverfahren
In der Tat sind die Asylverfahren in Griechenland deutlich beschleunigt worden. Auf den ersten Blick scheint das nationale Asylrecht auch dem europäischen Standard zu entsprechen. Asylsuchende dürfen nach ihrem ersten Negativbescheid Einspruch erheben. Sie müssen Zugang zu einer qualifizierten Rechtsberatung haben. Ein Übersetzer muss gestellt werden. Privatsphäre und geschultes Personal im Interview gehören ebenfalls zu den Standards.
Die Argentinierin Amanda Muñoz de Torro ist Geschäftsführerin von FENIX, einer NGO auf Lesbos, die Asylsuchenden kostenlos Rechtsberatung bietet. Sie beklagt weniger das Gesetz an sich als gravierende Mängel bei der Durchführung: "Die Menschen abzuschieben ist eine Priorität, nicht aber ihnen einen angemessenen Rechtsbeistand zu garantieren", so Muñoz de Torro. Dies spiegle sich auch in den Interviews wieder: "Oft ist die Übersetzung nicht gut, oder man führt Online-Interviews ohne Kamera durch, wodurch sich der zuständige Sachbearbeiter kein Bild von seinem Gegenüber machen kann. Es ist aber wichtig, sein Gegenüber zu sehen, um die Glaubwürdigkeit einschätzen zu können." Oft würde die Privatsphäre der Schutzbedürftigen nicht eingehalten, was vor allem im Fall von traumatisierten Flüchtlingen eine Rolle spielt. "Die Sachbearbeiter sind häufig nicht geschult im Umgang mit diesen Menschen und wissen nicht, welche Fragen sie stellen müssen." Gesetz und Praxis seien in Griechenland eben nicht dasselbe.