EU-Türkei: Der Deal zur Abschreckung
18. März 2021Es war im März 2016. Eines jener endlosen Gipfeltreffen, an dessen Ende müde Regierungschefs einen mühsam erkämpften Kompromiss verkünden: Der EU-Flüchtlingsdeal wurde als Erfolg europäischer Politik gefeiert. Ziel war es, die Anzahl der Geflohenen über die östliche Mittelmeerroute zu reduzieren, die über Griechenland in die Europäische Union kamen. Der politische Druck war nach dem Höhepunkt der Fluchtdebatte 2015 so groß geworden, dass eine Lösung um jeden Preis gesucht wurde. Bis 2015 waren nach Angaben der Europäischen Kommission über 850.000 Menschen in Griechenland angekommen.
Eine pragmatische Lösung
Der Mechanismus schien einfach: Alle Ankommenden sollten schnell von den griechischen Behörden auf ihre Asylberechtigung überprüft werden. Wer nicht bleiben durfte, sollte in die Türkei zurückgeschoben werden. Dafür würde die EU im Gegenzug die gleiche Zahl asylsuchender Syrer aus den Lagern in der Türkei in ihre Mitgliedsländer umsiedeln. Außerdem zahlten die Europäer rund sechs Milliarden Euro, um die bereits in der Türkei lebenden fast vier Millionen syrische Flüchtlinge zu unterstützen.
Kritiker sprachen damals von einem Ausverkauf humanitärer Werte und dem Outsourcing der EU-Asylpolitik ausgerechnet an den immer autokratischer regierenden türkischen Präsidenten Reccep Tayyip Erdogan. Aber Angela Merkel, die als politische Triebkraft hinter dem Abkommen galt, verteidigte den Deal im Bundestag: "Bei maritimen, bei Seegrenzen, geht es nicht anders, als dass man mit den Nachbarn spricht, wenn man die Menschen nicht ertrinken lassen und den Schleppern nicht die Hoheit über die Geschäfte lassen will", sagte sie. "Und deshalb ist das Abkommen mit der Türkei ein Modell für weitere solche Abkommen, mit Ägypten, mit Libyen - wenn es eines Tages mal eine vernünftige Regierung haben sollte, mit Tunesien und anderen Ländern, wo immer das notwendig ist."
Der Deal hat teilweise funktioniert
Die weiteren Abkommen mit den Mittelmeeranrainern sind immer noch nicht wirklich zustande gekommen, aber in einem Aspekt scheint der Deal mit der Türkei funktioniert zu haben: 2020 war die Zahl der Flüchtlinge, die in Griechenland eintrafen, auf rund 15.000 gesunken.
"Im letzten Jahr sind über 90 Prozent der Syrer, die seit Jahren in der Türkei als Flüchtlinge leben, auch dort geblieben. Seit 2014 ist die Türkei das Land mit den meisten Flüchtlingen weltweit, sie hat allein etwa dreimal so viele Syrer aufgenommen wie die ganze EU", sagt Migrationsforscher Gerald Knaus, der als einer der Ideen-Geber des Abkommens gilt. "Und das bedeutet, dass sich im letzten Jahr auch aufgrund der Unterstützung der EU vor Ort kaum Syrer auf den Weg gemacht haben, weil ihre Kinder zu Hunderttausenden in Schulen gehen, sie Zugang zum Gesundheit- und Sozialsystem haben."
Viele Flüchtlinge in der Türkei leben aber weiterhin in ärmlichen Verhältnissen und auch nicht alle haben Zugang zu Bildung. Die Gelder aus dem Flüchtlingspakt sind vorerst aufgebraucht. Hilfsorganisationen in der Türkei warten dringend auf neue Finanzmittel.
Andere Fluchtrouten
Natürlich spielen auch andere Faktoren eine Rolle, warum weniger Menschen in Griechenland ankommen: Zum Beispiel nutzen Flüchtlinge und Migranten aus afrikanischen Ländern längst die Route über Libyen in Richtung Italien. Spanien hat teilweise Sonderabkommen, etwa mit Marokko, damit Flüchtlinge nicht nach Spanien kommen oder sie zurückgebracht werden können. Seit der Schließung der Balkan-Route und auch mit Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals beklagen Organisationen Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen.
Weniger als 3000 Flüchtlinge wurden bisher nach Schätzungen von Griechenland in die Türkei zurückgebracht. Das Umsiedlungsprogramm in andere europäische Länder verlief bislang schon äußerst schleppend. Die Pandemie hat es vollends zum Erliegen gebracht.
Die EU hat bislang nicht die angestrebte Reform der gemeinsamen Asylpolitik auf den Weg gebracht, um Migration und Flucht nach Europa dauerhaft und nachhaltig zu regeln. Alle Reformentwürfe scheitern vor allem an der Frage nach einer möglichen Umverteilung ankommender Flüchtlinge zwischen den Staaten - besonders am Widerstand einiger Länder Osteuropas.
Erbarmungswürdige Lager in Griechenland
Die Architekten des Flüchtlingsdeals hatten nicht eingeplant, dass die griechischen Inseln zur Endstation für Tausende von Flüchtlingen werden würden. Die Justiz des Landes schafft es nicht, die Asylanträge zu bearbeiten. Die Erwartung sei nicht realistisch gewesen, sagt Gerald Knaus, dass "ein Land, in dem pro Kopf mehr Asylanträge gestellt werden als in der ganzen EU, schnell entscheiden kann, wer zurück muss".
Die schockierenden Zustände auf den Inseln, wo zeitweise 40.000 Menschen in Lagern lebten, die für ein paar Tausend ausgelegt waren, wurden zum Symbol einer gescheiterten europäischen Flüchtlingspolitik.
Der Brand im Lager Moria im vergangenen Winter lenkte den Blick der Weltöffentlichkeit auf das humanitäre Versagen. Während die neue konservative Regierung in Athen den politischen Ton und ihre Maßnahmen gegenüber den Flüchtlingen verschärfte, zahlte Brüssel zwar mehrere hundert Millionen Euro an Hilfen, überlässt die Bewältigung der Krise jedoch weiterhin weitgehend Griechenland.
"Das EU-Türkei Abkommen ist ein Fleck auf der Menschenrechtsbilanz der EU", sagt Imogen Sudbury vom International Rescue Committee (IRC), "und Menschen, die Schutz suchen, einschließlich der 15.000, die noch auf den griechischen Inseln gefangen sind, zahlen den Preis". Die Lager seien überfüllt und unzureichend versorgt, kritisiert die Nichtregierungsorganisation. Die Bewohner litten unter Depressionen und Selbstmordgedanken. "Es wurde glasklar, dass es keine humane, nachhaltige oder funktionierende Lösung für die EU ist, das Management von Migration an Drittländer auszulagern."
Gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik gescheitert
Die Türkei fordert schon seit längerem eine Neuauflage des Abkommens und mehr Geld. Darüber hinaus kritisiert sie, dass die politischen Versprechen mit Blick auf Visa-Erleichterungen und ein neues Zollabkommen nicht eingehalten wurden. Die Europäer begründen dies mit dem anti-demokratischen Kurs Ankaras und zunehmenden Menschenrechtsverletzungen im Land.
Schließlich, im Frühjahr 2020, setzte Präsident Erdogan den Erpressungshebel an und ließ Tausende Menschen an die Landesgrenze zu Griechenland transportieren. Athen verriegelte die Übergänge und wehrte die Menschen mit drakonischer Härte ab. Die brutalen Bilder zeigten das Scheitern der EU, für die Wahrung der Menschenrechte zu sorgen.
Beim EU-Gipfel Ende März kommt das EU-Türkei-Abkommen auf den Tisch. Das finanzielle Hilfsprogramm für die syrischen Flüchtlinge in der Türkei wurde inzwischen stillschweigend bis zum nächsten Jahr verlängert.
Schätzungen zufolge leben noch bis zu 100.000 Flüchtlinge in Griechenland - viele von ihnen seit Jahren. Der Wille, sie demnächst im Rest Europas aufzunehmen, ist nirgendwo erkennbar.