"Putins Regime wird durch Dialog gestärkt"
4. September 2021DW: Vor rund einem Jahr wurde Alexej Nawalny vergiftet. Welchen Einfluss hatte dieses Ereignis auf das politische Leben und die Opposition in Russland?
Michail Chodorkowski: Zum Glück hat dieses Ereignis kein endgültig trauriges Ende genommen: Alexej Nawalny sitzt heute zwar im Gefängnis, aber er lebt. Trotzdem war der Giftanschlag natürlich ein weiterer Schritt auf dem Weg von einem normalen Staat hin zu einem Paradies für Banditen, in dem man seine Gegner nicht nur kritisieren, sondern auch ins Gefängnis bringen und letztlich umbringen kann.
Viele Politikwissenschaftler und Journalisten behaupteten früher, dass Putins Regime zwar autoritär, aber nicht diktatorisch sei. Könnte man sagen, dass mittlerweile eine Verwandlung von einem autoritären in ein diktatorisches Regime stattgefunden hat?
Nein, natürlich nicht. Ein diktatorisches Regime zwingt den Leuten die aktive Unterstützung seiner Ideologie auf. Putins Regime hat keine Ideologie. In diesem Regime geht es um Geld und nicht um irgendeine große Idee.
Aber Putin schenkt dem Zweiten Weltkrieg und der Rehabilitierung der sowjetischen Periode viel Aufmerksamkeit, ebenso der Ukraine. Auch wenn Geld wahrscheinlich alle interessiert, inklusive Putin, hat er doch offensichtlich eine Vorstellung, eine Philosophie in Bezug auf das Wesen Russlands und dessen Stellung in der Geschichte.
Womöglich hat er diese Vorstellung. Jedoch fehlt es ihm an Bildung und einer globalen Herangehensweise, um aus seiner Vorstellung, die kleinteilig aus verschiedenen Arbeiten zusammenstückelt ist, ein einheitliches Konzept zu formen und es zu seiner Lebensaufgabe zu machen. Ich behaupte, dass ihm dies - zum Glück für uns alle - fehlt, weil ich mir sonst vorstellen kann, wie dieses Konzept aussehen würde. An einem ruhmreichen Russland besteht kein Interesse. Das Interesse sind Yachten, Räume voller Pelzmäntel, Schlösser und so weiter. Das will man tatsächlich. Die Idee des ruhmreichen Russlands ist nur ein Feigenblatt.
Und was ist mit Georgien, der Krim, dem Konflikt mit der Ukraine?
In diesen Fällen gab es ein ganz pragmatisches Interesse - Machterhalt, sowie die Gewährleistung der persönlichen Sicherheit. Mithilfe Georgiens begrub man alles reformatorische Bestreben Medwedews. (Anmerkung der Redaktion: Während des fünftägigen Kriegs zwischen Russland und Georgien im August 2008 war Dmitri Medwedew Präsident Russlands. Nach dem Krieg um die südkaukasische Provinz Südossetien erkannte Russland trotz internationaler Proteste diese und Abchasien als unabhängige Staaten an.) Die (Annexion der) Krim erhöhte das Vertrauen der Bevölkerung in Putin, davor waren seine Beliebtheitswerte auf 30 Prozent gefallen. Danach stiegen sie rasant und sanken erst wieder im vergangenen Halbjahr oder Jahr auf das vorherige Niveau. Mithilfe der Krim sicherte sich Putin fünf bis sechs zusätzliche Jahre persönlicher Sicherheit. Es war nicht seine strategische Entscheidung, das russische Imperium wiederherzustellen. Wäre das eine strategische Entscheidung gewesen, wäre - ich bitte um Verzeihung - in der heutigen Situation die Ukraine bereits an Russland angegliedert.
Sollte man - vor allem der Westen - mit Putins Leuten überhaupt reden?
Schwierige Frage. Putins Regime ist eine Gefahr, auch für westliche Länder. Sie können es sich nicht leisten, nicht mit ihm zu reden. Man sollte sich bloß im Klaren sein: Putins Regime wird durch Dialog gestärkt. Ihm wird dadurch zusätzliche Legitimität verliehen, die ihm fehlt, weil es keine fairen Wahlen gibt. Das Treffen mit Biden, der Besuch Merkels und dergleichen verleihen dem Regime Legitimität. Das tun weder Wahlen, noch innere wirtschaftliche Erfolge, noch das Regierungssystem im Land.
Diese Legitimität von Außen sollte dem Regime nur im Austausch gegen etwas Wichtiges gewährt werden. Geht es um das Risiko, zufällig den Knopf für einen weltweiten Atomkrieg zu betätigen, dann sollte man selbstverständlich mit jedem Banditen reden, um dieses Risiko abzuwenden. Geht es um die Freilassung politischer Gefangener, dann muss man zweifellos mit dem Regime reden, so wie man mit Banditen über Geiseln redet.
Aber wenn du versuchst, über ein Thema wie eine grüne Wirtschaft zu reden, dann sollte dir bewusst sein, dass es keine strategischen Absprachen mit diesen Leuten geben kann. Sie lügen grundsätzlich. Du kannst mit ihnen kurze, verständliche Deals eingehen. Du redest mit einem Banditen. Ist es notwendig, hin und wieder mit Banditen sprechen? Ist es. Sollte man mit diesen Banditen ein Bündnis schmieden? Nein, sollte man nicht - es sei denn, du bist selbst ein Bandit.
Wird Putin die Macht 2024 an sich selbst übergeben oder kommt es zu einem Machtwechsel?
Ich bin davon überzeugt, dass er sich momentan auf einen Wechsel vorbereitet. Aber sowohl ich als auch das Umfeld Putins glauben, dass er im letzten Moment sagen wird: "Wer denn, außer mir, ist in der Lage, hier weiter am Steuer zu sitzen?"
Also eine Machtübergabe von Putin an Putin im Jahr 2024?
Von Putin an Putin. Jedoch wird er daraufhin mit einem wirklich ernsten Problem konfrontiert werden, das Krise der doppelten Loyalität heißt. Das durchschnittliche Alter im Staatsapparat ist 40-45 Jahre, das bleibt stabil. Und wenn Sie 60 Jahre alt sind, können Sie jedem einzelnen Beamten im Staatsapparat garantieren, dass es ihm gelingen wird, seine Karriere unter Ihrer Führung zu beenden. Deshalb wird er Ihren Befehlen Folge leisten.
Wenn Sie aber 70 Jahre alt sind, dann stellen Sie für einen 40-jährigen Mitarbeiter des Staatsapparats keine Garantie mehr dar, weil diese Menschen ihre Karriere auf jeden Fall unter einem anderen Herrscher werden beenden müssen. Und für die beginnt die Suche nach Alternativen. Genau hier tritt die Krise der doppelten Loyalität auf: Die Aufspaltung der politischen Eliten. Ich vermute, dass für Putin das Jahr 2024 der Beginn einer äußerst schwierigen Phase sein wird.
Michail Chodorkowski ist Unternehmer, ehemals Chef des Ölkonzerns "YUKOS" und reichster Mann Russlands. Nach einer zehnjährigen Haftstrafe lebt er als Kritiker des russischen Präsidenten im Ausland. 2021 ist eine Reihe von mit ihm verbundenen Organisationen in Russland als unerwünscht eingestuft worden.
Das Gespräch führte Konstantin Eggert.
Adaption aus dem Russischen: Katja Raiher