"Unklar, wohin Putin Russland zerrt"
14. März 2018Deutsche Welle: Herr Chodorkowski, was empfehlen Sie den Russen, die sich noch nicht entschieden haben, für wen sie am kommenden Sonntag stimmen sollen?
Michail Chodorkowski: Ich glaube, dass es im gegenwärtigen Zustand der russischen Gesellschaft äußerst wichtig ist, dass diejenigen Menschen, die bereit sind, eine bestimmte politische Botschaft zu senden, dies auch machen. Das ist wichtig für die russische Gesellschaft und auch für jeden Einzelnen. Die Art dieser politischen Botschaft, was die Staatsmacht angeht, kann sehr unterschiedlich sein.
Wenn man für einen der Kandidaten stimmen will, dann ist dies die einfachste Möglichkeit: zur Wahl gehen und abstimmen. Klar ist, dass man nicht von einer Wahl sprechen kann, und klar ist auch, dass dies einem bestimmten Kandidaten nicht zum Sieg verhelfen wird. Aber dies wird dieser Person zusätzliches politisches Kapital verleihen, vor allem, wenn man ein Foto vom Stimmzettel macht und es ins Internet stellt. Denn niemand weiß, was die Wahlkommission wirklich machen wird. So wird der Kandidat sicher wissen, dass er eine konkrete Stimme bekommen hat.
Wenn man für keinen der Kandidaten stimmen will, dann gibt es einige andere Möglichkeiten. Man kann als Wahlbeobachter hingehen. Das ist wirklich wichtig. Beobachtung ist auch eine sehr klare Botschaft an die Staatsmacht: "Wir vertrauen Euch nicht, weil wir wissen, dass Ihr Verbrecher seid." Dann kann man auf die Straße gehen und protestieren. Das ist riskant und kann einige Tage Haft zur Folge haben. Aber auch das ist eine starke politische Botschaft.
Und schließlich, wenn man weder zur ersten noch zur zweiten oder dritten Option bereit ist, dann hat man die Wahl, entweder auf der Couch sitzen zu bleiben oder zum Wahllokal zu gehen und den Stimmzettel ungültig machen, indem man auf ihn eine politische Botschaft schreibt. Man sollte sich für die letztere Option entscheiden.
Das Fernsehen und die öffentliche Meinung sind in Russland unter voller Kontrolle der Staatsmacht. Warum ist dann im Lande vor den Wahlen eine solche Nervosität zu spüren?
Die Nervosität hat mehrere Faktoren. In erster Linie ist es die Nervosität der Beamten. Sie wissen, dass sie "eins auf den Hut kriegen können". Wofür, wissen sie selbst nicht ganz. Daher erfindet jeder irgendetwas, daher all die Schreiben und Erklärungen. Zweitens gibt es eine Nervosität, die mit möglichen Straßenprotesten verbunden ist. Klar ist, dass es keine Massen sein werden. Aber trotzdem, man könnte auch hier "eins auf den Hut kriegen". Und drittens gibt es Nervosität unter den Menschen, die sich Gedanken machen. Man weiß nicht, was einen am Tag nach der Wahl erwartet. Putin wird dieses Mandat für weitere sechs Jahre bekommen. Und was dann?
Das einzig Neue, was er bei seiner jüngsten Ansprache anbieten konnte, waren Waffen zum Selbstmord. Das ist keine sehr optimistische Botschaft. Niemand weiß, in welche Richtung dieser Mann das Land zerren wird, nachdem er das Mandat ein weiteres Mal an sich gerissen hat.
Was meinen Sie: Wie viele Amtszeiten wird Putin noch machen?
Wenn das von Putin abhängen würde, dann wäre dies die letzte Amtszeit. Natürlich würde er gerne gehen. Putin ist eine Person, die mit jedem Jahr von ihrem Umfeld immer abhängiger wird. Für das Land wäre es äußerst interessant, wenn er gehen würde, und emotional würde auch Putin selbst gerne gehen, indem er einen Nachfolger ernennt. Doch für sein Umfeld könnte jeder Nachfolger Änderungen bedeuten, die mit dem Leben unvereinbar sind.
Was gibt Ihnen Hoffnung?
Für Russland gibt es kein anderes akzeptables Modell als das europäische Entwicklungsmodell. Jedes Land hat seinen besonderen Weg. Aber die Anzahl der Zivilisations-Modelle ist sehr begrenzt. Es gibt drei: das europäische, das islamische und das chinesisch-konfuzianische. Weder das islamische noch das konfuzianische passt zu uns. Wir sind Menschen der europäischen Kultur. Ich bin fest davon überzeugt, dass Russland, wie in den letzten 500 Jahren, mit einer leichten Verzögerung auf dem europäischen Weg der Entwicklung vorankommen wird - manchmal mehr hinterherhinkend, manchmal aufholend. Das ist mein Optimismus.
Michail Chodorkowski, früherer Oligarch und Ex-Vorstandsvorsitzender des von den russischen Behörden aufgelösten Ölkonzerns Yukos, saß zwischen 2003 und 2013 in Russland in Haft. Verurteilt wurde er wegen Steuerhinterziehung und Betrugs. Amnesty International betrachtete den Putin-Gegner als politischen Gefangenen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stufte hingegen seine Verurteilung im Jahr 2011 als nicht politisch motiviert ein. Ende 2013 wurde Chodorkowski überraschend begnadigt, und er konnte Russland verlassen.
Das Gespräch führte Vladimir Esipov.