Mexikos drogenpolitischer Zickzackkurs
2. Juli 2021Mexiko und der Kampf um die Legalisierung von Marihuana – das ist ein scheinbar unendliches Kräftemessen zwischen progressiven und konservativen Kräften in einem Land, das mehr und mehr vom Drogenkrieg ausgeblutet wird. Jetzt hat sich auch das Oberste Gericht deutlich positioniert: Es erklärte am Montag mit acht zu drei Stimmen ein gesetzliches Verbot des Marihuanakonsums für verfassungswidrig und forderte den Kongress auf, dies auch rechtlich zu verankern.
Unsicherheit trotz juristischem Meilenstein
Lisa Sánchez, Direktorin der Organisation "Vereintes Mexiko gegen die Kriminalität" (MUCD) begrüßt im Gespräch mit der DW das Gerichtsurteil. "Nicht mal in Deutschland oder Großbritannien bezogen die höchsten Gerichte so klar Stellung, indem sie sagten, dass der Konsum von Marihuana vom Recht auf persönliche Entfaltung gedeckt ist", sagt Sánchez. Doch darunter mische sich bei ihr auch Frust über die "Inkompetenz der Abgeordneten": "Die Politiker haben das Thema noch nicht verstanden oder verstehen wollen, noch immer herrschen viele Tabus."
Noch im Frühjahr hatten Lobbyisten aus Wirtschaft und Militär das fast schon fertige Gesetz kurz vor der Abstimmung im Kongress gestoppt. Und auch die Regierung sendet widersprüchliche Signale im Umgang mit einer Legalisierung von Cannabis. Konsumenten können auf der Grundlage des Obersten Gerichtsurteils nun zwar bei der Staatlichen Kommission für den Schutz vor Gesundheitsrisiken (Cofepris) eine Lizenz beantragen, die ihnen nicht mehr – wie bislang üblich - verweigert werden kann. Doch mehr Rechtssicherheit schafft das nicht. Denn noch immer gelten Strafgesetze, die den Anbau, Handel oder den Besitz von mehr als fünf Gramm Cannabis verbieten.
Ein Thema, das spaltet
"Ein Teil der politischen Elite, einschließlich des Präsidenten, ist konservativ", erklärt Zara Snapp, Mitgründerin des Forschungsinstituts für Drogenpolitik und Frieden (RIA), gegenüber der DW. "Eine Legalisierung macht ihnen Angst, und sie glauben nicht an die Vorteile. Für uns, die wir Morena gewählt haben in der Hoffnung auf eine progressive Agenda, ist das ein wenig enttäuschend", sagte sie unter Anspielung auf die klare Parlamentsmehrheit, die die Regierungspartei Morena in den vergangenen drei Jahren im Kongress hatte. Auch die öffentliche Meinung ist gespalten. In der jüngsten Umfrage der Zeitung "El Financiero" vom April 2021 befürwortete erstmals eine knappe Mehrheit von 52 Prozent die Legalisierung. Doch die Ergebnisse der jährlichen Befragung unterliegen starken Schwankungen.
Aktivisten für die Freigabe von Marihuana gingen daher den Rechtsweg und erstritten seit 2015 mehrere Gerichtsurteile in ihrem Sinne; damit zwangen sie den Gesetzgeber dazu, aktiv zu werden. Bis Ende April hätte das Gesetz zur Legalisierung von Cannabis laut gerichtlicher Fristsetzung fertig sein müssen – doch im Juni fanden in Mexiko Regional- und Parlamentswahlen statt, für alle Parteien stand viel auf dem Spiel. "Präsident Andrés Manuel López Obrador hat öffentlich eingeräumt, dass sein Kabinett über das Thema zerstritten war und deshalb das Gesetzgebungsverfahren ausgebremst wurde", sagt Lisa Sánchez.
Aufgerieben zwischen kommerziellen und Sicherheitsinteressen
"Der Senatsentwurf wurde im Unterhaus sehr stark verändert, nachdem mehrere Ministerien intervenierten", berichtet auch Zara Snapp. Die ursprüngliche Senatsvorlage war aus ihrer Sicht sehr viel sozialer ausgerichtet, weil eine Anzahl von Lizenzen indigenen und ländlichen Gemeinden sowie dem Eigenanbau vorbehalten war, während das Unterhaus kommerziellen Anbietern Vorteile einräumte.
Aber auch die unter López Obrador politisch einflussreich gewordenen Sicherheitskräfte machten zunehmend Front gegen eine Legalisierung: "Sie nutzen den Straftatbestand des Drogenbesitzes zur präventiven Verbrechenskontrolle", erläutert Sánchez das Motiv. Habe die Polizei jemanden in Verdacht, kriminell zu sein oder eine Straftat begehen zu wollen, werde ihm Marihuana untergejubelt, um ihn deshalb einsperren zu können. Das ginge mit einer Legalisierung nicht mehr.
"Riesenchance" auf Paradigmenwechsel
Nach der Entscheidung des Obersten Gerichtes ist nun erneut der Kongress am Zuge. "Es ist eine Riesenchance für Mexiko", sagt Snapp, um endlich einen Paradigmenwechsel in der Drogenpolitik zu vollziehen. Dabei habe der mexikanische Staat die Chance, dem Blutvergießen Einhalt zu gebieten. Seit Beginn des Drogenkriegs im Jahr 2006 starben über 275.000 Mexikaner eines gewaltsamen Todes. Hierbei wünscht sie sich auch mehr Impulse der US-Regierung. Obwohl dort schon 19 Bundesstaaten Marihuana legalisiert hätten, gäbe es vom Nachbarland bislang keinerlei Unterstützung für Mexiko – auch nicht unter Joe Biden. "Die Cannabis-Legalisierung ist kein Zauberstab", räumt die Expertin ein. Aber sie könne dazu beitragen, die Lebensumstände besonders der ärmeren, aufgrund von Cannabisbesitz und -anbau kriminalisierten Bevölkerung, zu verbessern und das Konfliktpotenzial zwischen ihr und dem Staat zu verringern.