Merkels "weites Herz" für Europa
21. September 2013"Scheitert der Euro, dann scheitert Europa. Und das darf nicht passieren." Diesen Satz hat Angela Merkel im Krisenherbst 2011 geprägt und seither immer wieder gesagt. Er ist das Leitmotiv ihrer Krisen- und Europapolitik. Die Bundeskanzlerin hat erst zögerlich finanziellen Hilfen für angeschlagene Länder zugestimmt. Dann hat sie Rettungsschirme mitkonstruiert, Schuldenschnitte ausgehandelt und sich schließlich noch mit Anleihenkäufen durch die Europäische Zentralbank einverstanden erklärt. "Das war für uns Neuland", sagte die Kanzlerin dazu. "Die EU von heute ist nicht die EU von vor fünf Jahren. Es hat sich sehr viel getan, weil diese Krise so tiefgehend und strukturell ist", sagt der Ökonom und Politologe Janis Emmanouilidis vom "European Policy Centre", einer Denkfabrik in Brüssel, zur Europa-Politik der Kanzlerin."In diesen drei, vier, fünf Jahren hat Berlin, hat die Bundesregierung und damit auch die Kanzlerin eine maßgebliche Rolle gespielt."
Das weite Herz
Angela Merkel hat in der Euro-Krise auf Hilfe im Austausch gegen Sparmaßnahmen und Reformen gesetzt. In Griechenland, Zypern, Portugal, Irland, Spanien und auch Italien wurde sie von Politik und Medien für harte Einschnitte verantwortlich gemacht. Wütende Proteste der Menschen waren die Folge. Merkel in SS-Uniform oder als neuer Hitler waren Auswüchse der Kritik. "Im Grunde ihres Herzens wissen die Menschen in diesen Ländern auch, dass ich nicht diese Probleme verursacht habe, sondern dass da andere Dinge nicht ganz in Ordnung waren", sagt Merkel heute im Wahlkampf, fast schon milde zu den Kritikern.
"Mutti", wie sie manchmal in Deutschland auch von eigenen Parteinanhängern genannt wird, vergibt ihren europäischen Kindern. Sie sei traurig, wenn die Menschen nicht gesprächsbereit seien, aber sie sei niemandem böse. "Natürlich ist Kritik nicht immer sachlich und Satire ist auch nicht immer sachlich. Aber ich finde, wir müssen hier ein weites Herz haben. Ich ziehe da ein paar Pfeile auf mich, weil ich auch eine bestimmte Position habe. Und dann nehme ich das auf mich", sagte Angela Merkel in der "Wahlarena" im ARD-Fernsehen.
Führungsrolle zögerlich angenommen
Janis Emmanouilidis geht davon aus, dass Angela Merkel die Führungsrolle in der Krise nicht angestrebt hat, aber als Vertreterin der wirtschaftlich stärksten Macht in Europa auch nicht ablehnen konnte. "Ich glaube nicht, dass sie es gewollt hat, aber als die Situation da war, ist sie in diese Rolle hineingegangen. Viele Partner haben auch darum gebeten, dass sie, dass Deutschland diese Führungsrolle wahrnimmt." Das britische Wirtschaftsmagazin "Economist" forderte Deutschland vor einigen Wochen sogar auf, noch mehr Reformen in der Europäischen Union durchzusetzen, nach Schuldenbremse, Fiskalpakt und Bankenunion. Deutschland sei ein "widerwilliger Hegemon", titelte das Blatt.
Deutschlands Rolle in Europa ist derzeit auch so stark, weil Frankreich in der Krise steckt. Der konservative Präsident Nicolas Sarkozy hatte nach anfänglichen Querelen alles mitgemacht, was Merkel vorschlug. Gemeinsam haben Sarkozy und Merkel, Spitzname "Merkozy", den griechischen Ministerpräsidenten Papandreou und später den italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi entsorgt, als diese sich dem deutsch-französischen Krisenmanagement nicht beugen wollten. Der neue sozialistische Präsident in Frankreich, François Hollande, konnte sich gegen Merkel nicht durchsetzen. Es gab nur kleinere Zugeständnisse zur Lockerung der Sparpolitik aus Berlin. "Angela Merkel hat sich inzwischen an einen Präsidenten angepasst, der sich nicht automatisch nach deutschen Positionen richtet", sagte Thierry Repentin, stellvertretender französischer Europaminister, der "Süddeutschen Zeitung".
Die Mitgliedsstaaten bestimmen den Kurs
Die Krise und ihre Managerin haben das Machtgefüge in Brüssel verschoben. Die vormals mächtige EU-Kommission, die die Gesetze vorschlägt und überwacht, habe Boden verloren, weil sie zu langsam und unflexibel arbeite. So der Vorwurf aus Berlin. Das Europäische Parlament hat wenig Einfluss, weil zum Retten der maroden Banken in den Krisenstaaten vornehmlich Geld aus den nationalen Haushalten der Mitgliedsstaaten eingesetzt wird. Der Ministerrat, in dem die nationalen Regierungen vertreten sind, gibt den Ton an. Der britische Außenminister William Hague formulierte es bei einer Podiumsdiskussion des Thinktanks "Open Europe" in London so: "Unter allen europäischen Institutionen hat der Rat, der den nationalen Parlamenten verantwortlich ist, die Führung übernommen. Denn es geht um Entscheidungen, die Geld kosten. Da schauen die Menschen ganz vorhersehbar auf ihre nationalen Parlamente als legitime Entscheidungsträger."
Nicht nur die EU-skeptische Regierung in Großbritannien, sondern auch die niederländische fordern mittlerweile einschneidende Reformen. Die Niederlande legten kürzlich einen Bericht vor, wie die angebliche Regelungswut und Kompetenzüberschreitung der EU-Zentrale in Brüssel zurückgefahren werden kann. Mit diesen Strömungen muss sich die neue Bundesregierung nach der Wahl auseinandersetzen. Angeblich plant Angela Merkel, sollte sie im Amt bleiben, eine neuerliche Kurskorrektur in der Euro-Krise. Sie will der EU Macht und Zuständigkeiten abnehmen. Sie wolle, so meldete das "Handelsblatt", mehr auf Vereinbarungen direkt zwischen den Regierungen setzen. Im Wahlkampf hatte Merkel schon gesagt, sie sehe "keine Notwendigkeit, noch mehr Kompetenzen nach Brüssel abzugeben". Vor wenigen Monaten war das Motto noch: "Mehr Europa!" Und zwar in einer wirklichen vertieften Wirtschafts- und Währungsunion.
Radikale Reformen nach der Wahl?
Der kritische Chef der Denkfabrik "Open Europe" in London, Lord Rodney Leach of Fairford, befürwortet eine radikale Verschlankung der Europäischen Union als Ergebnis der Finanz- und Schuldenkrise. Meinungsumfragen zeigen, dass das Vertrauen der Menschen in EU-Institutionen gerade auch in Deutschland sinkt. Jeder deutsche Regierungschef, egal von welcher Partei, müsse darauf reagieren, so Rodney Leach of Fairford. "Die Logik gebietet, dass Berlin radikale Reformen unterstützt, und zwar weil die eigenen Wähler das so unterstützen. Dies tun viele Wähler in ganz Europa. Es passt zum nordeuropäischen Instinkt."
Der sozialdemokratische Europaabgeordnete Udo Bullmann hat allerdings Zweifel, ob Angela Merkel die Kraft zu Reformen hat, egal in welche Richtung. In den letzten Jahren "hat sie die Kunst des Aussitzens auf ganz Europa übertragen", kritisiert Bullmann gegenüber der DW. Jeden Monat gerate die Euro-Zone neu an den Rand des Zusammenbruchs. Die hohe Arbeitslosigkeit sei nicht zu verantworten.
"Nicht der Nabel der Welt"
Angela Merkel selbst versucht, mit der deutschen Führungsrolle in der Öffentlichkeit nicht aufzutrumpfen. Sie gibt sich bescheiden, wie zum Beispiel in einer Regierungserklärung im Oktober 2011, auf dem Höhepunkt der Griechenland-Rettung. "Die wirtschaftlich stärkste Nation sind wir, aber, das sage ich auch, wir sind immer noch nicht der Nabel der Welt. Die Welt schaut auf Europa und Deutschland. Sie schaut darauf, ob wir bereit und fähig sind, in der Stunde der schwersten Krise Europas nach dem Zweiten Weltkrieg Verantwortung zu übernehmen."
Die Erwartungen an Deutschland, die Bundesregierung und die Chefin oder den Chef, seien in der Krise hoch, so Janis Emmanouilidis. Deutschland könne es aber nicht alleine, sondern brauche auch in der EU immer noch Verbündete. Manchmal müssen für Vertragsänderungen zum Beispiel, ja alle 27 übrigen EU-Mitglieder gewonnen werden. "Man darf aber auch nicht übertreiben. Außerhalb Deutschlands habe ich manchmal auch den Eindruck, dass man Verantwortung abschiebt. Da argumentiert man, man habe etwas tun müssen, was man eigentlich gar nicht wollte oder durfte es nicht tun, was man wollte, weil Berlin das so haben wollte", sagte Emmanoulidis.
Keine großen Kurswechsel
Nach einer Analyse der Denkfabrik "Open Europe" würde sich die Europa-Politik Deutschlands nach dem 22. September nicht großartig verändern, auch wenn Angela Merkel nicht mehr Bundeskanzlerin wäre. Die Gleichung heißt also nicht "Scheitert Merkel, scheitert der Euro, scheitert Europa". Eine linke Regierung in Deutschland würde vielleicht gegenüber den Krisenstaaten etwas freundlicher auftreten, aber das Geld der Steuerzahler und Wähler würde man zusammenhalten. Auch die Sozialdemokraten würden dem deutschen Reflex zum sparsamen Haushalten folgen, so Nina Schick, politische Analystin für "Open Europe". Schließlich wurden die Grundzüge der Euro-Rettung von allen Parteien im Bundestag, außer der sozialistisch-kommunistischen "Linkspartei", bislang mitgetragen.