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Kommentar: Merkel braucht keine Visionen

Volker Wagener22. September 2013

Kaum Themen hat der Wahlkampf 2013 in Deutschland - so als ginge es um nichts. Warum also schaut ganz Europa so konzentriert auf Berlin? Eben weil die Wahl auch für die Europäer wichtig ist, meint Volker Wagener.

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Neulich in der Straßenbahn. Was für ein fader Wahlkampf, beschwere ich mich gegenüber einem Arbeitskollegen. Keine Inhalte, keine Kontroversen, von Visionen ganz zu schweigen, lautet mein Fazit. Mein Gegenüber schaut mich schweigend an. Er ist Russe. Deutsche und russische Lebensverhältnisse sind ihm gleichermaßen vertraut. Mir nur die deutschen. "Du musst Deutschland von außen betrachten, um es zu schätzen", sagt er. Und dann ist er nicht mehr zu stoppen.

Als einzige Großnation trotze Deutschland den Krisen - erst dem Lehmann-Bankrott 2008 und nun schon seit Langem den Staatspleiten im EU-Raum. Die Konjunktur laufe, die Beschäftigung liege auf Rekordniveau und die Sozialkassen seien randvoll. Sogar Lehrlinge würden gesucht und im Ausland gefunden. Von Inflation kaum eine Spur. "Worüber klagen also die Deutschen?", fragt er. Deutschland sei ein Vorbild an Stabilität, Prosperität und Organisiertheit, jeder dritte Russe würde Merkel wählen, legt er nach.
Ich bin irritiert. So gut soll es uns Deutschen gehen, und ich weiß nichts davon?

Volker Wagener, Redakteur in Deutschlandredaktion der Deutschen Welle Foto DW/Per Henriksen 4.10.2010. DW1_0237.jpg,
Volker Wagener, DW-DeutschlandredaktionBild: DW

Europa ist deutscher geworden

Es ist ja wahr, es geht uns gut. So gut, dass wir Reformen vertagen und uns an den Früchten der Politik des Ex-Kanzlers Gerhard Schröder (SPD) laben. Der hatte mit seiner "Agenda 2010" die Sozialleistungen beschnitten. Merkel profitiert davon. Eine Ironie der Geschichte. Eigene Reformvorhaben hat Merkel in die Zukunft verschoben.

Bestimmt hatte die zweite Kanzlerschaft Angela Merkels vor allem Unvorhergesehenes. Der Atom-Unfall von Fukushima und die Schuldenkrise in Südeuropa - beides war nicht eingeplant. In beiden Fällen hat Merkel gehandelt. Die Kernschmelze in Japan hat Deutschland die Energiewende beschert. Die gelernte Physikerin und überzeugte Förderin der Atomtechnik Merkel hat sich quasi über Nacht von der strahlenden Energie verabschiedet. Das ist bemerkenswert, aber noch lange kein Markenzeichen ihrer zweiten Amtszeit.

Die Nachwelt wird sie vor allem als Eurokrisen- und Schuldenmanagerin erwähnen. Nahezu die gesamte Agenda der schwarz-gelben Regierung stand unter dem Zeichen der Euro-Rettungspolitik. Mit diesem Thema hat sich Merkel Respekt verschafft. Aber nicht nur Respekt: Selten zuvor hagelte es so viel, so lange anhaltende und so massive Kritik an Angela Merkel und ihrem rigiden Sparkurs, den sie den Griechen, den Spaniern und allen anderen vor dem Bankrott stehenden Staaten aufgezwungen hatte.

Kein Zweifel: Die EU ist deutscher geworden in der Krise. Merkel ist die inoffizielle Vorstandsvorsitzende der 'EU-AG'. Nichts belegt das deutlicher als der Stillstand in Brüssel. Seit Wochen liegen dort wichtige Themen auf Eis - und alle warten darauf, dass Deutschland endlich wählt, damit es weiter geht. Fragt sich nur, mit wem?

Die Krise ist anderswo, Deutschland ist mit sich zufrieden - ein Trugschluss

Der langweilige und weitgehend inhaltsfreie Wahlkampf macht vor allem eines deutlich: Die Deutschen sind mit sich, mit ihrer wirtschaftlichen Situation ziemlich zufrieden. Während im Süden Europas die Alarmsirenen schrillen, schläft der Deutsche mitten in der Krise ruhig und fest. Geradezu selbstgefällig registrieren wir die Bewunderung aus dem Ausland.

Ja, wir finden es schon richtig, dass Italiener und Spanier, Griechen und Iren nun brutal sparen müssen, bevor sie Geld aus der EU-Gemeinschaftskasse bekommen. Es mutet geradezu paradox an, dass das Spar- und Reformdiktat von Kanzlerin Merkel an die Adresse der Schuldenstaaten Deutschland zum Global Player wider Willen gemacht hat. Zumindest finanz- und europapolitisch. Und das bei gleichzeitiger außenpolitischer Abstinenz. In der Frage, ob Berlin im Syrien-Konflikt Verantwortung übernehmen will, heißt es weiter: Nein, danke!

Deutschland vor der Wahl: Richtig spannend ist nur das Ereignis selbst. Der Wahlkampf war themenleer und lange Zeit von der Dominanz der Kanzlerin geprägt. Nun wird es enger auf der Zielgeraden. Wenn Angela Merkel am Ende die Nase vorn haben sollte, dann wegen ihrer Euro-Politik. Als Steuerfrau durch die Wogen der Krise hat sie Härte und Konsequenz bewiesen. Das kommt gut an, auch bei Wählern in anderen politischen Milieus. Den Preis dieser Politik kennen wir alle noch nicht. Im Moment interessiert das nicht. Die deutsche Kanzlerin will über die Kosten der Euro-Rettung auch nicht reden. Irgendwie genießen wir die Ruhe vor dem Sturm.

Visionen braucht Angela Merkel für die Zukunft dennoch nicht. Das würde auch Helmut Schmidt, SPD-Bundeskanzler vor Helmut Kohl, uneingeschränkt so sehen. Sein Credo lautete: "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen."