Merkels neue Außenpolitik
16. Januar 2006"Einen ziemlich souveränen Eindruck, jemand der durchaus weiß, was ihm wichtig ist in der Außenpolitik" kommentiert Nikolaus Blome, stellvertretender Chefredakteur der "Welt", den Antrittsbesuch von Merkel in den USA und Russland. Merkel sei selbstbewusst genug zu sagen, was die Streitpunkte oder die Meinungsverschiedenheiten sind. Doch vermeide sie jeden Tonfall, der zu einem langwierigen Zerwürfnis führen könnte, bilanziert Blome das Auftreten der Kanzlerin.
Dass sich Frau Merkel als eine sehr selbstbewusste Kanzlerin zeigte, findet auch Andreas Rinke vom "Handelsblatt". Frau Merkel wolle zwar keine neue Ausrichtung der gesamten deutschen Außenpolitik vornehmen, ihr sei aber wohl daran gelegen, ein paar neue Akzente zu setzen. "Das hat sie in Washington bewiesen, wo sie zwischen Freundschaft und klaren Worten die richtige Mischung gefunden hat, und das hat sie auch in Moskau bewiesen, wo ihr ja das ähnliche Kunststück gelungen ist", so Rinke.
Wo setzt Merkel ihre Schwerpunkte?
Doch was macht Merkel anders als Schröder? Sie stelle eindeutig die deutsch-amerikanische Freundschaft und Übereinstimmung auf der Werteebene in den Vordergrund, meint Ulrich Lüke vom "Bonner General Anzeiger". Sie nehme sich auf dieser Basis aber auch die Freiheit konkrete Problemfelder anzusprechen, in denen es große Differenzen gibt. "Damit ist auch klar, dass Moskau nicht die Spur von annähernd gleicher Bedeutung in ihrem außenpolitischen Konzept haben wird, auch wenn sie von einer 'strategischen Partnerschaft' mit Moskau spricht", hält Lüke als wichtigen Unterschied fest.
Menschenrechte
Eine "Verschiebung verschiedener Koordinaten" in Merkels Außenpolitik erwartet auch Matthias Arning, Redakteur der "Frankfurter Rundschau". Eine neue außenpolitische Linie glaube er schon bei Merkel zu erkennen, sagte er vor Merkels Besuch in Moskau. Die neue Bundeskanzlerin ist in seinen Augen von den traditionellen Bezügen in ihrer Partei, "also von einem relativ treuen Verhältnis zu den USA und einem solidarisch-kritischen Verhältnis zu Russland" ein Stück weit entfernt. Dennoch benenne sie ihre eigene Linie klar, und das sei, die Frage der Menschenrechte zu einem wichtigen Kriterium der Außenpolitik zu machen.
Als zentralen Unterschied zwischen Schröder und Merkel nennt der FR-Redakteur auch, dass sie mit der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial" spricht, und "das ist schon erstmal ein sehr mutiges Zeichen". Das müsse man ihr jenseits aller sonstigen Probleme mit ihrer Außenpolitik auf jeden Fall zu gute halten.
Der stellvertretende Chefredakteur der "Welt", Blome, glaubt hingegen, dass den Menschenrechten ein gewisser Pragmatismus im Wege stünde, dem Merkel sicherlich treu bleiben werde. Er glaubt nicht, dass sie Menschenrechte und das Monieren von irgendwelchen Missständen im Ausland ganz nach oben auf ihre außenpolitische Agenda setzen werde. Denn es sei bedenklich, einen russischen Präsidenten in Menschenrechtsfragen öffentlich bloßzustellen.
Wirtschaftliche Kooperationen
Eine neue Betonung wirtschaftlicher Aspekte im deutsch-amerikanischen, aber auch im deutsch-russischen Verhältnis erwartet Ulrich Lüke vom "Bonner General Anzeiger" – gerade weil die wirtschaftliche Erholung in der Bundesrepublik Hauptthema sei. "Frau Merkel hat bereits in Washington deutlich gemacht, dass diese Aspekte, die für die konkreten Auswirkungen für die Menschen hierzulande wichtig sind, durchaus an Bedeutung gewinnen müssen", so der Redakteur.
"Ich weiß nicht, ob Frau Merkel ein 'Handelsvertreter' werden wird, wie das Schröder war, der bei fast jeder größeren Auslandsreise eine sehr große Delegation von Wirtschaftsvertretern dabei hatte", bedenkt jedoch Nikolaus Blome von der "Welt". "Das scheint zurzeit kein besonders prominenter Schwerpunkt von Frau Merkel zu sein", so der Redakteur. Aber das könne sich ja noch entwickeln.