Merkel schafft den Kompromiss
23. Juni 2007Für mehrere Stunden schien es in der Nacht zum Samstag (23.6.), als ob Angela Merkel auf dem EU-Gipfel zu viel aufs Spiel gesetzt hätte. So wie kein deutscher Regierungschef vor ihr auf einem Treffen von europäischen Staats- und Regierungschefs hatte sie die polnische Regierung unter Druck gesetzt - und die Lösung ließ weiter auf sich warten. Polen und Großbritannien hatten seit Beginn des Krisengipfels am Donnerstagabend auf harte Konfrontation gegen die deutsche Ratspräsidentschaft gesetzt. Die Gipfel-Stimmung kippte in verschiedene Richtungen, mehrfach stand er vor dem Abbruch. Erst nach massiven Zugeständnissen der Partner lenkten der polnische Staatschef Lech Kaczynski und der britische Premier Tony Blair ein - um 4.24 Uhr kam die erlösende Nachricht vom Durchbruch.
Zum Durchbruch kam es, als Polen spät in der Nacht einem Kompromiss über die Stimmgewichtung zustimmte. Die neuen Mehrheitsregeln - der Streitpunkt mit Polen - treten nun erst 2017 voll in Kraft, vier Jahre später als eigentlich von Merkel geplant. Vor dem Gipfel hatte Polen immer wieder mit einem Veto gedroht, um das stärker an der Bevölkerungsgröße ausgerichtete Abstimmungssystem aus der Verfassung zu verhindern.
"Sehr zufrieden"
Am Ende, nach 20 Stunden Dauerverhandlung, war Merkel zwar sichtbar von Müdigkeit gezeichnet, aber doch "sehr zufrieden". Letztlich hatte der Gipfel das verabschiedet, was Merkel als amtierende Ratspräsidentin zuvor als ihr Maximalziel angegeben hatte: Nicht nur einen Fahrplan zum Abschluss des Reformprozesses der EU, sondern auch alle Eckpunkte für die neuen vertraglichen Grundlagen der Union.
Bis dahin hatte es einen wahren Verhandlungskrimi gegeben: Sechs Mal hatte die Kanzlerin in Brüssel mit Polens Präsidenten Lech Kaczynski gesprochen, mal unter vier Augen, mal im Beisein anderer. Am frühen Abend schien es, als könnten die Differenzen um die Mehrheitsregelung ausgeräumt werden. Doch dann musste Merkel erfahren, dass Lech kein volles Verhandlungsmandat hatte. In Warschau verfolgte sein Zwillingsbruder Jaroslaw, der polnische Ministerpräsident, die Verhandlungen und gab im Fernsehen öffentlich den Hardliner. Er drohte mit einem Veto.
Drohung und Gegendrohung
Merkel riss darauf der Geduldsfaden - und sie reagierte postwendend. Sie ließ eine spektakuläre Erklärung verbreiten, dass nun die Ratspräsidentschaft notfalls gegen die Stimme Polens den Auftrag für die EU-Reformkonferenz, die im Herbst tagen soll, erzwingen wolle: "Die Präsidentschaft hat sich wiederholt intensiv um die polnischen Anliegen bemüht und einen zuletzt weit auf Polen zugehenden Vorschlag gemacht. Dieser wurde von der polnischen Seite abgelehnt. In dieser Situation wird die Präsidentschaft vorschlagen, Europa nicht auf der Stelle treten zu lassen." Polen könne sich ja später in der Regierungskonferenz im Herbst "dem europäischen Konsens anschließen".
Als Merkel diese Strategie beim Abendessen der Regierungschefs präsentierte, meldeten mehrere Redner Bedenken an. Man solle es nochmals mit den Polen versuchen. Die Kanzlerin stimmte zu, und Frankreichs neuer Staatspräsident Nicolas Sarkozy und der scheidende Briten-Premier Tony Blair sprangen in die Bresche. Sie bearbeiteten telefonisch und direkt die Kaczynski-Zwillinge. Der spanische Ministerpräsident Jose Luis Rodriguez Zapatero gab Schützenhilfe.
Junker als Makler
Schließlich war es wieder einmal der Luxemburger Jean-Claude Juncker, der den ultimativen Vorschlag in Abstimmung mit Merkel machte: Die Stimmengewichtung nach der Mehrheit der Staaten und der Bevölkerungszahl sollte nicht 2009, wie es die Verfassung vorsah, und auch nicht 2020, wie es die Polen verlangten, sondern 2014 kommen. Bis 2017 sollen für Länder wie Polen, die Nachteile befürchten, die bisherigen Abstimmungsregeln gelten.
Merkel: Gefahr des "Desasters"
Es habe die Gefahr bestanden, "dass wir heute Abend in einem ziemlichen Desaster auseinander gehen", sagte Merkel. "Es ist gut für die Gesamtunion und für Polen, dass wir das schlussendlich gemacht haben." Präsident Kaczynski zeigte sich ebenfalls mit dem Kompromiss zufrieden und sagte: "Wir mussten keine bitteren Pillen schlucken." Man habe ein System erhalten, das unvergleichlich vorteilhafter sei als die ursprünglich geforderte Stimmengewichtung nach der Quadratwurzel aus der Bevölkerungszahl. Im Nachhinein rechtfertigte er auch noch einmal das umstrittene Argument der polnischen Kriegstoten als Entschädigung für ein hohes Stimmengewicht in der EU. Zugeständnisse bekam auch Großbritannien, das die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta nicht anerkennen wollte. Die Ratspräsidentschaft billigte Blair zu, dass durch die Charta nicht in britisches Recht eingegriffen werde. Dies rief zwischenzeitlich die Befürworter der EU-Verfassung auf den Plan, denen die Zugeständnisse an die Kritiker zu weit gingen. "Es ist im britischen Interesse, im Zentrum Europas zu stehen", sagte Blair. Auch sein designierter Nachfolger Gordon Brown stehe zu der Vereinbarung.