Merkel rechtfertigt ihren Kurs
4. Juli 2018Der Bundesregierung im Parlament Paroli bieten, dafür ist normalerweise die Opposition zuständig. Doch was ist schon normal in einem Land, in dem sich die Regierung fast nur mit sich selbst beschäftigt? In der Generaldebatte des Bundestags über den Haushalt 2018 liegt diese unausgesprochene Frage am Mittwoch irgendwie in der Luft. Niemand stellt sie konkret, aber trotzdem antworten alle darauf. Denn kein Redner, keine Rednerin kann oder will das mit verblüffender Rücksichtslosigkeit aufgeführte Duell zwischen den konservativen Schwesterparteien CDU und CSU ignorieren.
Folglich ist der weiter schwelende Streit darüber, wie mit Migranten an deutschen und europäischen Grenzen umzugehen sei, das überragende Thema. Und auch die Differenzen innerhalb des Regierungslagers sind und bleiben spürbar. Die Protagonisten - Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr Innenminister Horst Seehofer (CSU) - haben zwar am Montag einen Kompromiss gefunden. Ob und wie lange der hält, darauf wettet im Moment aber wohl kaum jemand.
Merkel erklärt Migration zur Schicksalsfrage
Wie dramatisch die Situation ist, bringt Merkel selbst unmissverständlich zum Ausdruck: Der Umgang mit dem Thema Migration werde darüber entscheiden, ob die Europäische Union Bestand habe. Es müsse mehr Ordnung in alle Arten der Migration kommen, "damit Menschen den Eindruck haben, Recht und Ordnung werden durchgesetzt". Man brauche jetzt Antworten, "die unseren Werten entsprechen". Dass die Würde jedes einzelnen Menschen unveräußerlich sei, darauf weist die Regierungschefin in diesem Zusammenhang hin.
Überhaupt spricht Merkel viel über Antworten, die dem Völkerrecht entsprächen, dem europäischen und dem nationalen Recht. "Wir brauchen solidarische Antworten in Europa und wir brauchen vor allem realistische Antworten." Solche, die Gesellschaften nicht überforderten, sondern die im Alltag für alle auch lebbar seien. Das alles werde nur gehen, "wenn wir nicht über die Köpfe anderer Länder in Afrika hinwegsprechen, sondern wenn wir mit den Ländern sprechen".
Ein Marschall-Plan für Afrika?!
Und deshalb brauche man einen neuen Pakt mit Afrika. Deshalb sei das Thema von Entwicklungsminister Gerd Müller - ein "Marshall-Plan für Afrika" - wichtig. Merkels ärgster Widersacher in den eigenen Reihen, Innenminister Horst Seehofer, hört sich die Rede seiner Chefin auf der Regierungsbank an. Äußerlich ruhig sitzt er dort zurückgelehnt rechts neben Finanzminister Olaf Scholz, der zugleich Stellvertreter der Bundeskanzlerin ist. Der Sozialdemokrat wirkt wie ein Puffer, als Merkel an ihren Platz zurückkehrt.
Gemeinsam hören die drei, was Scholz' Partei-Freundin, SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles zum Asylstreit zu sagen hat. "Humanität und Realismus gehen zusammen", lautet ihre Botschaft. Und das werde man im Regierungsalltag auch beweisen. "Unsere Grundsätze: keine nationalen Alleingänge, rechtsstaatliche Verfahren müssen eingehalten werden, geschlossene Lager lehnen wir ab." Ob sie in diesem Moment für die SPD spricht oder für gemeinsame Regierung mit CDU und CSU, sagt sie nicht. Möglich ist beides.
AfD: "Alimentierung von Millionen von Asyl-Einwanderern"
Zum Auftakt der Generaldebatte rechnet Alice Weidel, die Fraktionsvorsitzende der Alternative für Deutschland (AfD), mit Merkels Flüchtlingspolitik ab. Die Rechtspopulistin wirft der Kanzlerin Umverteilung und Klientel-Politik vor und die "Alimentierung von Millionen von Asyl-Einwanderern". Merkel sei auf der auf der ganzen Linie gescheitert.
Nichts habe sie erreicht, außer mit allen Listen und Kniffen noch etwas länger auf dem Sessel einer Kanzlerin zu sitzen, die einer längst schon innerlich zerbrochenen Koalition vorstehe. "Und dafür spalten Sie Deutschland, dafür spalten Sie Europa." Dafür spalte und zerlege sie ihre wackelige Koalition und am Ende ihre eigene Partei." Machen Sie also dem Trauerspiel ein Ende treten Sie bitte ab!", beendet Weidel ihren Verriss.
FDP wirbt für parteiübergreifenden Lösungsversuch
Moderater ist die Kritik des Fraktionsvorsitzenden der Freien Demokraten (FDP), Christian Lindner. Er richtet den Blick anfangs auf die Innenpolitik, mahnt Problem-Lösungen in den Bereichen Klima, Digitalisierung und Wohnungsnot an. Es gebe nicht nur die "Welt-Bühne" und die "Ränder der Gesellschaft". Sondern es gebe auch Millionen Menschen in der Mitte dieser Gesellschaft, "die von ihrer Regierungschefin Antworten auf Alltagsprobleme erwarten".
Davon habe man nichts gehört, "weil seit dem Herbst 2015 Ihre Regierung insbesondere mit Fragen der Flüchtlingspolitik und Asylfragen beschäftigt ist". Lindner verknüpft seine Kritik mit einem Angebot an Merkel: "Lassen Sie uns parteiübergreifend das Problem lösen!" In dieser entscheidenden Frage solle man wie Anfang der 1990er-Jahre beim Asylkompromiss "die politischen Debatten-Linien verlassen gemeinsam neu denken". Damals wurde unter dem Eindruck steigender Flüchtlingszahlen das in Artikel 16 des Grundgesetzes verankerte uneingeschränkte Asylrecht massiv eingeschränkt.
"Sie hätten mit einem Lächeln auch Jesus abgeschoben"
Dass sich Linke und Grüne an einer weiteren Verschärfung beteiligen würden, darf wohl ausgeschlossen werden. Es gehe nicht um menschliche Lösungen, sondern um Macht, kommentiert Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch die Asylpolitik der Regierung und den Streit innerhalb der Regierung. Sein Fazit: Die Humanität bleibe auf der Strecke. "Sie hätten mit einem Lächeln auch Jesus abgeschoben", sagt er an die Adresse von Innenminister Seehofer.