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Merkel: Keine Extrawurst für Großbritannien

Sabine Kinkartz, Berlin28. Juni 2016

Vor dem Europäischen Rat in Brüssel liest Bundeskanzlerin Merkel den Briten die Leviten: Rosinenpickerei soll es beim Austritt aus der EU nicht geben. Die SPD fordert eine Investitionsoffensive in Europa.

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Angela Merkel Regierungserklärung Berlin Brexit
Bild: picture-alliance/dpa/K.Nietfeld

Die Kanzlerin hat einen langen Tag vor sich. Am Nachmittag beginnt in Brüssel ein zweitägiger Europäischer Rat - erst mit und anschließend ohne Großbritannien. Es ist das erste Treffen der Gemeinschaft, nachdem sich die Briten mit knapper Mehrheit für einen Ausstieg aus der EU entschieden haben. Es steht zu vermuten, dass es in Brüssel hoch her gehen wird. Es wird anstrengend werden, doch Angela Merkel scheint gewappnet.

In ihrer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag lässt sie jedenfalls keinen Zweifel daran, wo der Hase ab jetzt lang laufen soll. "Am fünften Tag nach dem Referendum sind wir uns schon weitaus klarer als am Freitag darüber, was genau zu tun ist - beim heute beginnenden Europäischen Rat und weit darüber hinaus", sagt Merkel und es klingt so, als sei die Zeit der Trauer nach dem Referendum ab heute Geschichte. Auch wenn die deutsche Regierungschefin keinen Zweifel daran lässt, dass sie die Entscheidung der Briten durchaus als einen "Einschnitt für Europa" und einen "Einschnitt für den europäischen Einigungsprozess" wertet.

Bei aller Freundschaft - so nicht

Doch ab jetzt zählen vor allem die europäischen und - ja auch - die deutschen Interessen. Die Verhandlungen mit "einem zukünftigen Drittstaat" dürfen nicht dazu führen, die Errungenschaften der Europäischen Einigung für die 27 Mitgliedsstaaten in Frage zu stellen, erklärt Merkel. Mag die Freundschaft mit den Briten noch so groß sein, die Partnerschaft auch in der NATO noch so eng: "Es muss und es wird einen spürbaren Unterschied machen, ob ein Land Mitglied der Familie der Europäischen Union sein möchte, oder nicht."

Deutschland Berlin PK Merkel Renzi und Hollande
Wie geht es weiter nach dem Brexit? Mit ihren Amtskollegen aus Frankreich und Italien ist sich Merkel schon einigBild: Reuters/H. Hanschke

Spürbar wird er für die Briten vor allem hinsichtlich der Vorteile, die das Vereinigte Königreich aufgeben muss. "Wir werden sicherstellen, dass die Verhandlungen nicht nach dem Prinzip der Rosinenpickerei geführt werden", sagt Merkel. Wer aus der EU-Familie austreten wolle, der könne nicht erwarten, dass damit alle Pflichten entfallen, die Privilegien aber weiter bestehen bleiben würden. "Ich kann unseren britischen Freunden nur raten, sich hier nichts vorzumachen bei den notwendigen Entscheidungen, die in Großbritannien getroffen werden müssen."

Krisentreffen in Berlin

Die Briten können auf keine Sonderbehandlung hoffen, auf diese Linie hatte sich Merkel am Montagabend in Berlin mit den Regierungschefs von Frankreich und Italien, François Hollande und Matteo Renzi, verständigt. Noch vor dem gemeinsamen Abendessen war sich das Trio einig, dass der Austrittsprozess nach klaren Regeln ablaufen soll.

Dazu gehört auch, dass es vor einem offiziellen Austrittsersuchen nach Artikel 50 des EU-Vertrags keine Verhandlungen geben soll. "Wir nehmen zur Kenntnis, dass Großbritannien einen Antrag gemäß Artikel 50 noch nicht stellen will und Großbritannien seinerseits muss zur Kenntnis nehmen, dass es keine wie auch immer gearteten Verhandlungen oder Vorgespräche geben kann und wird, solange der Antrag nach Artikel 50 nicht gestellt wurde", wiederholte Merkel ihre Meinung noch einmal im Bundestag.

Maulkorb von Juncker

Dabei weiß sie sich mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker auf einer Linie. Der kritisierte vor dem EU-Parlament "klammheimliche" Bestrebungen in London, die Verhandlungen mit den EU-Partnern noch vor der offiziellen Austrittserklärung "in abgedunkelten Räumen" zu beginnen und so etwa den künftigen Zugang zum EU-Binnenmarkt zu sichern.

Jean-Claude Juncker und Nigel Farage EU Parlament Brüssel
EU-Kommissionspräsident Juncker (r.) begrüßt im EU-Parlament den UKIP-Politiker Nigel FarageBild: picture-alliance/dpa/G.Vanden Wijngaert

Er habe seinen Mitarbeitern einen "Mufti-Befehl" erteilt, sich auf keinerlei Verhandlungen dieser Art einzulassen, so Juncker in der ihm eigenen flapsigen Art. Wenn die Verhandlungen dann offiziell starteten, "werden wir die Tagesordnung bestimmen und nicht diejenigen, die die EU verlassen wollen".

Was nicht heißen soll, dass den Briten der Zugang zum Binnenmarkt verwehrt werden soll. Im Gegenteil. Aber Angela Merkel lässt auch in diesem Punkt keinen Zweifel an den Bedingungen, die die Briten akzeptieren müssen. "Freien Zugang zum Binnenmarkt bekommt der, der die vier europäischen Grundfreiheiten akzeptiert: Die der Menschen, der Güter, der Dienstleistungen, des Kapitals", zählt die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung auf.

Wann erklären sich die Briten?

Zwanzig Minuten redet Angela Merkel im Bundestag, anschließend haben Politiker der Opposition und der Regierungsfraktionen das Wort.

Grundsätzlich unterstützt die SPD die Linie der Bundeskanzlerin, doch es gibt durchaus auch Differenzen. Während CDU-Chefin Merkel den Briten, aber auch der EU durchaus Zeit geben will, will SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann deutlich Gas geben. Es sei zwar die Entscheidung der britischen Regierung, wann sie den Austritt erkläre. "Aber es ist die Pflicht der deutschen Bundesregierung und aller anderen Mitglieder im Europäischen Rat, klar zu machen, was unsere Erwartung ist, und deswegen bitte ich Sie, Frau Bundeskanzlerin, drängen Sie im Europäischen Rat darauf, dass möglichst schnell Klarheit geschaffen wird." Eine jahrelange Hängepartie könne niemand gebrauchen, so Oppermann.

Jahrelang, das will auch die Kanzlerin nicht. Gleichzeitig hat Angela Merkel aber auch kein Interesse an überstürzten Entscheidungen. Aus ihrer Perspektive scheint es besser, wenn sich die Lage erst einmal beruhigt. Schon allein, um denjenigen den Wind aus den Segeln zu nehmen, die jetzt kostspielige Pläne für eine Reform der EU aus den Schubladen holen. Dazu gehören auch die Sozialdemokraten. So fordert Fraktionschef Oppermann im Bundestag "mehr Investitionen und Innovationen", um die Union für die Bürger wieder interessanter zu machen.

Deutschland Bundestag Thomas Oppermann
SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann drängt auf einen schnellen AustrittBild: picture-alliance/dpa/B. von Jutrczenka

Teure Wachstumspakete?

Es gelte, "das Wohlstandsversprechen" zu erneuern. Das aber werde mit den derzeit aktuellen Planungen nicht funktionieren. "Wir brauchen eine andere Dimension von Investitionsprogramm, ein Programm, das die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft und auch die Infrastruktur so modernisiert, dass die jungen Menschen das Gefühl haben, dass sie auch in zehn Jahren hier noch eine wirtschaftliche Perspektive haben", so Oppermann. Dafür müsse innerhalb von zehn Jahren in der EU "die modernste digitale Infrastruktur der Welt" geschaffen werden.

Ein Plan, so schwant der Kanzlerin, der mit der aktuellen Spar- und Konsolidierungspolitik kaum zu vereinbaren sein wird. Bis zum vergangenen Freitag wusste die Bundesregierung die Briten in diesem Punkt an ihrer Seite. Das ist nun Geschichte.