Gegen Kleingeist in Flüchtlingskrise
3. November 2015Bundeskanzlerin Angela Merkel hat vor zu kleinteiligen Lösungsansätzen bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise in Europa gewarnt. "Wenn wir zu klein denken, wenn wir zu sehr auf uns bezogen denken, dann wird das wieder eine große Gefährdung für Europa sein", sagte Merkel beim Tag der Deutschen Industrie in Berlin. Die Herausforderung lasse sich nicht an der deutsch-österreichischen Grenze bewältigen. Es sei ein europäischer Ansatz notwendig. "Wir müssen darauf beharren, dass die Lasten innerhalb der EU fair verteilt werden, ansonsten wird das System nicht funktionieren." Die rund 1200 Manager rief die Kanzlerin auf, über ihre Kontakte im Ausland für eine gemeinsame Antwort auf die Herausforderungen zu werben. "Denn die, die heute in Europa meinen, sie seien davon nicht betroffen, werden morgen in irgendeiner Weise davon betroffen sein - und sei es, indem man die Einheit Europas infrage stellt", sagte Merkel.
SPD-Chef Sigmar Gabriel warnte vor einer Überbewertung des aktuellen Koalitionsstreits über sogenannte Transitzonen für Flüchtlinge. "Manchmal ist nicht alles so dramatisch, wie es sich liest", sagte der Vize-Kanzler vor den Industrievertretern. Es sei "relativ albern", über Transitzonen und damit über ein Problem zu streiten, das nur 2,4 Prozent der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge betreffe. Nach dem Willen der Union sollen in solchen Transitzonen im Schnellverfahren die Anträge von Schutzsuchenden abgewickelt werden, die voraussichtlich keinen Anspruch auf Asyl haben, weil sie zum Beispiel aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten kommen.
"Die Stimmung kann auch umschlagen"
BDI-Präsident Ulrich Grillo hatte zuvor die Bundesregierung zur Geschlossenheit und einem gemeinsamen Handeln in der Flüchtlingspolitik aufgerufen. Zugleich müsse die Regierung mehr für die Sicherung des Wirtschaftswachstums tun, um die Herausforderungen durch den Zustrom der Menschen zu meistern, betonte Grillo vor dem Industrietag. Nur dann lasse sich das Flüchtlingsproblem, das viel Geld kosten werde, wirtschaftlich bewältigen, sagte der Präsident des Bundesverbandes der Industrie (BDI). "Die Stimmung kann auch umschlagen", warnte er.
Die nach wie vor günstige Wirtschaftsentwicklung sollte es nach Grillos Worten erleichtern, die Herausforderung anzugehen. "Die gute Konjunktur bleibt in Deutschland intakt." Der BDI rechnet weiter mit rund zwei Prozent Wachstum in diesem Jahr und ist damit optimistischer als die Bundesregierung und viele Experten. "Im kommenden Jahr wird die Sache etwas schwieriger", sagte BDI-Hauptgeschäftsführer Markus Kerber aber voraus. Dennoch sollte es, wenn die Integration der Zuwanderer einigermaßen bewältigt werde und sich die Rahmenbedingungen nicht gravierend verschlechterten, auch 2016 bei einer insgesamt guten Entwicklung bleiben.
"Aufschwung ist noch nicht nachhaltig genug"
Die Regierung müsse aber auch bei Energiepolitik und Digitalisierung handeln. "Unser Aufschwung ist noch nicht nachhaltig genug", warnte Grillo. An der Halbzeitbilanz der Regierung habe der BDI viel auszusetzen. "Die große Koalition hat ein paar Eigentore geschossen: mit Mindestlohn, Rente mit 63, Maut und vielen anderen Themen." Nötig seien mehr öffentliche Investitionen, mehr Schritte zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. "Wir haben eine große Koalition, die hat eine große Verantwortung", unterstrich er.
Kritisch äußerten sich Merkel wie auch Grillo über die Abgasmanipulationen bei Volkswagen. Man müsse auf eine transparente und schnelle Aufklärung bestehen, sagte Merkel. Grillo erklärte, VW habe mit dem Abgasskandal der deutschen Industrie einen Bärendienst erwiesen. Mit einer schnellen Aufarbeitung stehe das Unternehmen auch in der Verantwortung für die ganze Industrie.
Britischer Schatzkanzler fordert grundlegende Änderungen in EU
Ein Gastredner auf dem Industrietag war auch der britische Schatzkanzler George Osborne. Er verlangte durchgreifende Änderungen in der Europäischen Union, damit sein Land in der Staatengemeinschaft bleiben könne. "Wir wollen, dass Großbritannien in einer reformierten EU bleibt, aber die EU muss besser funktionieren - für alle Bürger in Europa und für Großbritannien", betonte Osborne in der Bundeshauptstadt. Eine immer enger werdende Union sei für London einfach nicht mehr richtig. Er warb für einen Deal: "Sie bekommen eine Euro-Zone, die besser funktioniert, und wir bekommen die Gewähr, nicht benachteiligt zu werden."
Großbritannien will bis Ende 2017 per Volksentscheid über seine Zukunft in der EU abstimmen. "Wir können eine bessere EU aufbauen", so der Brite. Europa müsse aber endlich und schneller wettbewerbsfähiger werden. Die Rolle der nationalen Parlamente müsse gestärkt werden. Auch müsse die Beziehung zwischen den Nicht-Euro-Ländern wie Großbritannien und den Mitgliedern der Währungsunion verbessert werden. Der bestehende rechtliche Rahmen reiche dafür nicht aus. Länder, die nicht den Euro als Währung eingeführt haben, dürften nicht systemisch benachteiligt werden. "Es gibt Fälle, in denen Nicht-Euro-Länder an Entwicklungen teilnehmen können - wie der Bankenunion", sagte Osborne. Dies müsse aber freiwillig geschehen. Es dürfe nie der Fall sein, dass die Steuerzahler von Nicht-Euro-Ländern für die Rettung von Euro-Ländern geradestehen müssen. "Lassen Sie uns nicht ständig dagegen kämpfen."
sti/wl (afp, dpa, rtr)