Über die Gaspipeline Nord Stream 1 sind nach einer zehntägigen planmäßigen Wartung am Donnerstag die russischen Gaslieferungen wieder aufgenommen worden, wenn auch nicht mit voller Kapazität. Dennoch sorgte dies in der Europäischen Union und insbesondere in Deutschland für ein Aufatmen. In der größten Volkswirtschaft der EU wurde befürchtet, Russland könnte diese wichtigste Transportroute für Erdgas unter irgendeinem Vorwand komplett stilllegen.
Präsident Wladimir Putin will jedoch, wie man sieht, sein Gas als geliebte und immer noch sehr mächtige Waffe nicht aus seiner Hand geben. Wenn er Gazprom befohlen hätte, die Lieferungen über Nord Stream 1 nicht wieder aufzunehmen, dann hätte er endgültig "alle Brücken hinter sich abgebrochen." Dass im heutigen Russland, insbesondere jetzt während des Krieges gegen die Ukraine und der totalen Konfrontation mit dem Westen, er es ist, der solche geostrategischen Entscheidungen trifft, scheinen inzwischen selbst die naivsten Deutschen erkannt zu haben.
Die EU hätte die höchste Alarmstufe des Energie-Notstands ausrufen und sofort mit der Umsetzung bereits fertiger Pläne für den Notfall in der Gasversorgung beginnen müssen. Es wäre zu einem Embargo für russisches Gas gekommen, nur das es nicht von der EU, sondern von Russland selbst verhängt worden wäre. Danach wäre es für Russland schwierig, nach einiger Zeit wieder mit Lieferungen zu beginnen. Dies würde wie ein Zeichen der Schwäche aussehen, wie ein Zugeständnis an den Westen, gar wie ein faktisches Eingeständnis dessen, dass Gazprom ohne seine europäischen Kunden die gigantischen Mengen seiner westsibirischen Gasförderung nirgendwo loswerden kann.
Und so wird nun der Staatskonzern weiterhin Devisen für das Land erwirtschaften, was für Russland als Rohstoffmacht wichtig ist, zumal russische Kohle aufgrund der EU-Sanktionen in drei Wochen komplett vom europäischen Markt verschwinden wird, und russisches Öl weitgehend bis Ende des Jahres. Doch in der aktuellen Situation ist für den Kreml offenbar etwas anderes viel wichtiger: Mit dem erneuten Betrieb von Nord Stream 1 behält Moskau die Möglichkeit, die Europäer weiter in Angst und Schrecken zu versetzen und ihnen mit einem kompletten Gas-Stopp zu drohen.
Gazprom kann die Europäer weiterhin erpressen
Sich auf Turbinen und andere technische Details berufend, wird Gazprom wieder die Lieferungen plötzlich drosseln können, wie es Mitte Juni kurz vor dem Besuch der Staats- und Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Rumäniens in Kiew geschah, wo sie sich dafür einsetzten, der Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten zu verleihen. Und Putin wird weiter, wie jetzt in Teheran, verkünden können, dass zum Beispiel die über Nord Stream 1 fließenden Mengen auf ein Fünftel der bestehenden Kapazität reduziert werden müssten oder dass die Europäer Nord Stream 2 in Betrieb nehmen müssten.
In dieser sehr demütigenden Situation bleibt der EU und insbesondere Deutschland, dem Hauptschuldigen für die derzeitige Gasabhängigkeit der Europäer von Russland und seinem Regime, keine andere Wahl, als die Zähne zusammenzubeißen und dies zu erdulden, um Zeit zu gewinnen. Zeit, die benötigt wird, um bis zum Winter so viel Gas wie möglich in europäische Speicher zu pumpen.
Abhängigkeit von Russland wird ab 2023 rapide abnehmen
Zurzeit sind die Gasspeicher in der EU durchschnittlich zu 65 Prozent gefüllt, was sehr gut ist. Dies macht das Ziel von 80 bis 90 Prozent in dreieinhalb Monaten realistisch. Polen, Schweden und Dänemark haben dieses Ziel bereits erreicht. In Deutschland sind es derzeit 65 Prozent.
Bei einer maximalen Befüllung der Speicher besteht die Chance, die derzeit exorbitanten Gaspreise zu senken. Doch für die Europäer ist jetzt etwas anderes das Wichtigste: Sie müssen sich für die kommenden Wintermonate gegen einen elementaren Energiemangel absichern, der zwangsweise zur Einschränkung oder gar Einstellung von Gaslieferungen zuerst an Industrieunternehmen führen könnte. Ohne ihren Betrieb könnten andere Branchen zum Erliegen kommen. Dies wäre ein direkter Weg in eine Rezession.
Es dreht sich alles um den kommenden Winter. Schon 2023 wird es besser werden, weil die Gaslieferungen über Pipelines aus anderen Ländern deutlich zunehmen, neue LNG-Terminals eröffnet und zahlreiche Energiesparmaßnahmen greifen werden. Die Bundesregierung geht davon aus, dass im Sommer 2024 die Abhängigkeit von russischem Gas beendet werden kann.
Befüllung der Gasspeicher jetzt wichtigste Aufgabe
Aber vorerst ist diese Abhängigkeit noch zu hoch und macht die gesamte EU wirtschaftlich und politisch angreifbar, was ihre Fähigkeit, der Ukraine zu helfen, einschränkt. Deshalb hat die EU jetzt keine wichtigere Aufgabe, als die Gasspeicher schnell zu füllen. Um dieses Ziel zu erreichen, kann man Putins Gas-Spiele hinnehmen, sie sogar mit ihm mitspielen.
Denkt Putin, dass er die Europäer mit dem Gas in der Hand hat? Dann soll er das doch denken! Freut er sich der Illusion, dass es noch möglich sein wird, Nord Stream 2 wiederzubeleben? Dann soll er sich doch freuen! Er wollte die Rückgabe der Siemens-Turbine aus Kanada? Es ist richtig, dass man sie zurückgibt! Wird er noch anderes Gerät für Reparaturen von Nord Stream benötigen? In solch einem Disput muss man wie in einem echten Krieg in der Lage sein, vorübergehend einige Positionen aufzugeben, um seine Kampffähigkeit insgesamt aufrechtzuerhalten.
Während Putin all seine Gas-Spiele treibt und dem russischen Fernsehpublikum sagt, alles laufe nach Plan, werden die EU-Staaten Tag für Tag ihre Gasspeicher befüllen. Aus dieser Sicht ist die Wiederaufnahme der Lieferungen über Nord Stream 1, wenn auch in stark eingeschränkter Form, zu einem wichtigen Etappensieg der Europäer geworden. Sie haben Zeit und zumindest einiges an Gas gewonnen.
Der Kommentar erschien im Original auf Russisch.