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Freie Hand für den Staat im Kampf gegen Corona

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Jens Thurau
30. November 2021

Die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen während der Corona-Pandemie waren verfassungskonform. Mit diesem Urteil erweitert das Bundesverfassungsgericht den Spielraum der Politik auch für die Zukunft, meint Jens Thurau.

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Deutschland Symbolfoto Corona-Pandemie Notbremse
Die Bundesnotbremse war kein Missbrauch, sondern mit dem Grundgesetz vereinbar, sagen die VerfassungsrichterBild: Christoph Hardt/Geisler-Fotopres/picture alliance

Eines vorweg: Es ist kein Spaß, sondern bitterer Ernst, wenn der Staat in einer freiheitlichen Gesellschaft die Bürger zwingt, ihre Kontakte einzuschränken oder fast auf null zu fahren. Und den Menschen sogar verbietet, abends und nachts das Haus zu verlassen. Tut er es dennoch, muss etwas Gravierendes passiert sein. Und das, so die Richter, war während der sogenannten Bundesnotbremse zwischen April und Juni dieses Jahres der Fall. Die Maßnahmen hätten zwar in erheblicher Weise in verschiedene Grundrechte eingegriffen, seien aber in der äußersten Gefahrenlage der Pandemie mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen.  

Für die Zukunft heißt das: Was auch immer Politiker in Bund und Ländern in der gegenwärtigen dramatischen Corona-Lage in Deutschland entscheiden, sie können sicher sein, sich dabei zumindest weitgehend verfassungsgemäß zu verhalten.

Rückenwind für die abtretende Regierung

Natürlich ist die Lage derzeit kaum vergleichbar mit der im Frühjahr. Rund 70 Prozent der Menschen in Deutschland sind vollständig geimpft, die Bürger stehen vor Arztpraxen und Impfzentren mittlerweile Schlange, um sich die dritte, die Auffrischungsimpfung zu holen. Aber die Zahl der neuen Ansteckungen ist besorgniserregend hoch, die neue Omikron-Mutation verbreitet Angst und Schrecken, wieder melden die Krankenhäuser massive Überlastungen.  

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DW-Hauptstadtkorrespondent Jens Thurau

Derweil leistet sich die Politik, zwischen alter und neuer Regierung, einen hässlichen und erbärmlichen Streit um die Schuld für massives Versagen in der Pandemie. Für die vergleichsweise geringe Impfquote und viele Unverständlichkeiten, die nur plakativ mit dem Paradox umschrieben werden können, dass die meisten Bundesliga-Stadien weiterhin voll sind, die Menschen aber, egal ob geimpft, genesen oder ungeimpft, nicht zuletzt vom Bundespräsidenten dazu aufgerufen werden, wieder möglichst zu Hause zu bleiben.

Rückenwind ist der Urteilspruch aus Karlsruhe dabei für die noch wenige Tage amtierende Regierung, die ihre Nachfolger von SPD, Grünen und FDP zu einer Art weiterer Notbremse überreden möchte. In dieser, der neuen Regierung, die nächste Woche wohl ins Amt kommt, ist es vor allem die FDP, die vor zu harten Maßnahmen gewarnt hat und immer wieder die Verfassungskonformität einzelner Maßnahmen bestritten hat. Dieses Argument ist jetzt entkräftet.

Einstellen auf zumindest regionale Lockdowns

Es geht also weiter, vor allem die Menschen in Regionen mit hohen Inzidenzen werden sich wohl auf eine Art Lockdown einstellen müssen, vielleicht sogar das ganze Land. Es ist nur ein schwacher Trost, dass jetzt nach vielen Wochen die Zahl der Ansteckungen erstmals nicht weiter steigt. Aber auch wenn Karlsruhe der Politik, egal welcher Farbe, jetzt eine Art Freibrief ausgesprochen hat, ist es doch hohe Zeit für die Verantwortlichen, auch in der gegenwärtig dramatischen Lage, genau zu wägen, was geht und was nicht.

Einen weiteren Komplett-Stillstand mag man sich für das Land nicht vorstellen - nicht für die Gesellschaft, nicht für die Wirtschaft, nicht für die Kultur und für das Leben an sich. Und gut tun würde dem Land, wenn ihre Volksvertreter sich nicht wie in den vergangenen Wochen an einer Ausgrenzung der Menschen beteiligen würden, die aus welchen Gründen auch immer noch nicht geimpft sind.

Zur Freiheit gehört auch Verantwortung

Viele unverbesserliche Impfgegner sind darunter, sicher. Und viele, die ihren Corona-Protest nur nutzen, um mit dem ihnen verhassten Staat an sich abzurechnen. Aber das sind nicht alle. Es wäre umgekehrt eine besonnene Reaktion auf das Karlsruher Urteil, wenn die Politik nun versucht, wieder eine Ansprache an diese Menschen zu formulieren, so schwer das oft fällt. Zumal eine Impfpflicht sowieso mehr nicht helfen kann, die gegenwärtige Welle zu brechen.  

Ein klarer Fingerzeig ist der Spruch aus Karlsruhe aber, um das abschließend zu sagen, an all jene, die mit lautem Getöse ihre Freiheitsrechte einfordern, aber stets vergessen, dass zur Freiheit immer Verantwortung gehört. In diesem Fall die Verantwortung für die Infizierten. Und für ihre Ärzte und Pfleger, die seit fast zwei Jahren an der Belastungsgrenze und oft genug darüber hinaus dem Virus die Stirn bieten.