Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts ist ein Ärgernis für alle Befürworter der immer enger werdenden Europäischen Union. Denn die polnischen Richter haben der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) einen Riegel vorgeschoben: Demnach überschreitet der EuGH seine Kompetenzen, wenn er über polnische Gesetze urteilt, die die Art der Richterernennung und Gestaltung des polnischen Justizwesens festlegen. Polen habe dem EuGH derartige Kompetenzen im geltenden EU-Vertrag nicht eingeräumt, so die Begründung der Warschauer Richter.
Der Kompetenzstreit zwischen den nationalen Verfassungsgerichten und dem EuGH ist nicht neu. Tatsächlich existieren in der EU zwei Grundhaltungen, woran vor kurzem der ehemalige Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts, Andreas Vosskuhle, in einem Interview erinnerte: Der EuGH und die EU-Kommission gehen davon aus, dass der Vorrang des Europarechts vor nationalen Recht in der EU absolut ist. Demnach hat der EuGH immer das letzte Wort.
Wer ist Koch, wer Kellner?
Die zweite Sichtweise, die von vielen Verfassungsgerichten der EU-Mitgliedsstaaten vertreten wird, geht davon aus, dass die Mitgliedsstaaten den europäischen Institutionen nur bestimmte, klar umrissene Kompetenzen übertragen haben. Salopp gesagt: Es ist ein unlösbarer Streit darüber, wer hier Koch und wer Kellner ist. Auch das als extrem europafreundlich geltende deutsche Bundesverfassungsgericht hat den EuGH bereits mehrfach in die Schranken verwiesen - zuletzt im Mai 2020 in einem Urteil zu Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank.
Das zentrale Problem dahinter: Europäische Union ist kein Bundesstaat. Der Versuch in diese Richtung, eine europäische Verfassung zu verabschieden, scheiterte 2005 an Volksentscheiden in Frankreich und den Niederlanden. Bei allem Enthusiasmus für die Idee eines föderalen Europas, das immer enger zusammenwächst: Als Demokrat muss man diese Entscheidung von 2005 akzeptieren. Genauso wie die Tatsache, dass die gegenwärtige Europäische Union ein auf Kompromissen gebautes, unfertiges Gebäude ist.
Richtig ist aber auch, dass die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts ein Freifahrtschein für die national-konservative Regierung in Warschau ist, die Demontage des Rechtsstaats und des unabhängigen Justizwesens voranzutreiben. Wie man sieht, ist der Versuch, diese Entwicklung auf juristischem Weg aufzuhalten, gescheitert. Dieses Problem wird man nur politisch lösen können.
Der "Sieg der Souveränität" als Ablenkungsmanöver
Das in Polen regierende national-konservative Lager feiert das Urteil als "Sieg der Souveränität". Solche Rhetorik bedient den harten Kern ihrer Wählerschaft. Die Erfahrung lehrt, dass dies ein Ablenkungsmanöver sein kann. Denn es ist schwer vorstellbar, dass Warschau demnächst auf die Milliarden aus Brüssel verzichten will. Es sieht eher danach aus, dass wenigstens ein Teil der umstrittenen Justizreform bald zurückgenommen wird. Das Warschauer Urteil hilft dem im eigenen Lager als "Weichei" abgestempelten Premier Mateusz Morawiecki, innenpolitisch das Gesicht zu wahren und gleichzeitig außenpolitisch Kompromisse mit Brüssel zu schmieden. Geld gegen Rechtstaatlichkeit dürfte die Devise wohl heißen. Verhandlungsgeschick ist gefragt. Noch ist Polen für Europa nicht verloren.