Triumph und Schock in Polen
7. Oktober 2021Für die Demonstranten, die sich mit Schildern wie "Sei nicht gleichgültig" oder "Widerstand wird zur Pflicht" vor dem Verfassungsgericht in Warschau versammelt hatten und dort auf die Urteilsverkündung warteten, war es ein bitterer Nachmittag, den sie mit einem Wort zusammenfassten: "Schande!"
Mehrere Male hatte das Gericht die Verkündung der Entscheidung verschoben, die die Beziehungen zwischen Polen und der EU nun noch schwieriger macht, als sie es ohnehin schon waren. Nicht mehr von einer Vertiefung der Kluft zwischen beiden Seiten solle man nun sprechen, sondern von einem "schwarzen, düsteren Loch", in das Polen gestürzt sei, sagte Robert Grzeszczak, Professor für EU-Recht an der Universität Warschau, kurz nach der Urteilsverkündung gegenüber der DW.
"Rechtswissenschaftler sind heute ratlos, denn wir befinden uns außerhalb des Rechts. Wie soll ich als Jurist Handlungen kommentieren, die außerhalb des Rechts liegen?", fragt Grzeszczak. "Es ist reine Politik. Es ist der Effekt des politischen Drucks, der auf das der Regierung gegenüber gehorsame Verfassungsgericht ausgeübt wurde"
Der Jurist erwartet unter anderem Klagen der EU-Kommission und das Einfrieren weiterer EU-Gelder. "Es bleibt die Frage, ob wir uns selber aus der EU werfen oder ob wir herausgeworfen werden", sagt er. Der Ball liege jetzt bei der EU.
Eine Grundsatzfrage
Denn das polnische Verfassungsgericht unter Vorsitz von Julia Przylebska, einer engen Vertrauten von PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski, hat sein Urteil gesprochen. "Der Versuch des Europäischen Gerichtshofs, sich in das polnische Justizwesen einzumischen, verstößt gegen (…) die Regel des Vorrangs der Verfassung und gegen die Regel, dass die Souveränität im Prozess der europäischen Integration gewahrt bleibt", so die Richter. Zwei der zwölf Richter waren anderer Meinung, doch die Mehrheit erklärte Teile der EU-Verträge für verfassungswidrig. Przylebska zählte eine ganze Reihe von Artikeln auf, die nicht mit dem polnischen Grundgesetz vereinbar seien. Die EU-Institutionen "überschritten ihre Kompetenzen", hieß es. Auch von "Exzessen" der Richter aus Luxemburg war während der Anhörungen die Rede.
Im Zentrum des Rechtsstreits stand eine fundamentale Frage: Wie lassen sich das nationale und das EU-Recht miteinander vereinbaren und welches ist letztendlich dem anderen übergeordnet? Konkret ging es um die Reform der Richterberufung in Polen. Bei der Berufung von Richtern am Obersten Gericht bemühten sich unterlegene Kandidaten erfolglos beim polnischen Obersten Verwaltungsgericht um eine Überprüfung des Verfahrens. Die nationalkonservative PiS-Regierung, die seit 2015 im Amt ist, hatte im Rahmen der Justizreform eine solche Überprüfung per Gesetz praktisch unmöglich gemacht. Der Fall landete schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), dem höchsten EU-Gericht. Dieses befand, dass in so schwerwiegenden Fällen nationale Regeln selbst dann durch EU-Recht aufgehoben werden, wenn sie Verfassungsrang haben.
Daraufhin stellte der polnische Premier Mateusz Morawiecki beim polnischen Verfassungsgericht die Grundsatzfrage, welches Recht Vorrang genießt. Das Verhältnis nationalen Verfassungs- zu EU-Recht ist überall heikel, auch das Bundesverfassungsgericht stellte sich in einer konkreten Sachfrage gegen den EuGH. Doch im Fall Polens ist ein Punkt besonders problematisch: Das Verfassungsgericht, das nun in heiklen Frage urteilte, steht selbst unter dem Verdacht der Befangenheit, nachdem es regelwidrig umgebaut worden war. Laut einem Spruch des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs ist es illegal zusammengesetzt.
Piotr Ganciarek, Richter am Warschauer Landgericht, erklärte daher, ordentliche Gerichte sollten das jüngste Urteil des Verfassungsgerichts unberücksichtigt lassen, weil einige der Verfassungsrichter gar keine Richter seien. "Bedrückt" über die Entscheidung des Verfassungsgerichts zeigte sich der Vorsitzende der zweiten Parlamentskammer Tomasz Grodzki, der der oppositionellen Bürgerkoalition angehört. Die stellvertretende Parlamentspräsidentin Garbiela Morawska-Stanecka sagte, dass "man die Verfassung nicht dazu benutzen darf, den eigenen Staat zu zerstören".
Regierungssprecher Piotr Müller twitterte dagegen noch während der Urteilsverkündung: "Es ist klar hervorzuheben, dass Polen (nach den in der Verfassung der Republik Polen niedergelegten Grundsätzen) die geltenden Normen des EU-Rechts respektiert, soweit sie in von den EU-Verträgen ausdrücklich vorgesehenen Bereichen festgelegt wurden." Und auch der Chef der regierenden PiS, Jaroslaw Kaczynski, sagte noch vor der Verkündung, er wäre sehr besorgt, wenn eine andere Entscheidung fallen würde - als die, die dann auch tatsächlich fiel. "In Polen ist das höchste Recht die Verfassung, der auch Rechtsakte der EU unterworfen sind. Alles andere würde erstens bedeuten, dass Polen kein souveräner Staat ist, und zweitens, dass es in Polen keine Demokratie gibt", so Kaczynski.
Bartlomiej Przymusinski, Pressesprecher der polnischen Richtervereinigung "Iustitia" erinnerte dagegen kürzlich in einem Fernsehinterview daran, dass 2004, als die damalige polnische Regierung den EU-Beitrittsvertrag unterzeichnete und das polnische Parlament ihn ratifizierte, die polnische Verfassung bereits existierte. Er unterstrich, dass dem Gerichtshof in Luxemburg die Zuständigkeit für Fragen, die mit der Durchführung des Vertrags zusammenhängen, übergeben wurde. Da die polnische Verfassung seitdem nicht ausgetauscht wurde, sehe er keinen Widerspruch zwischen dem Beitrittsvertrag und dem polnischen Grundgesetz. "Wenn es so wäre, würde dies bedeuten, dass die höchsten Behörden, Regierung und Parlament die Verfassung durch den Beitritt zur Europäischen Union gebrochen haben", so der Richter.
Immer mehr Nachfragen zu Unabhängigkeit der Justiz in Polen
Polen steht seit längerer Zeit im Konflikt mit der Europäischen Union. Kern des Streits: Die so genannte Justizreform, die konsequent und ohne Rücksichtnahme auf Empfehlungen nationaler und internationaler Expertengremien von der regierenden PiS Partei vorangetrieben wird. Es ist eine komplexe Reform, bei der Kritiker der Regierung vorwerfen, sie übernehme zunehmend politische Kontrolle über die Richter und gefährde damit die Unabhängigkeit der Justiz und die Gewaltenteilung. Die nationalkonservative Regierung setzt dem entgegen, sie wolle die Gerichte effektiver machen und zum Beispiel Richter aussortieren, die im sozialistischen Polen Urteile gefällt haben. Doch oft wenden sich die politischen Maßnahmen gegen Richter, die zum Zeitpunkt der Wende gerade einmal volljährig waren.
Der Jurist Grzeszczak vergleicht die aktuelle Beziehung zwischen Polen und der EU mit einer Scheidung, bei der die Partner merken, wie ihre Werte auseinanderdriften. Es handele sich um die Infragestellung der Union als Wertegemeinschaft. "Ich halte gleich eine Vorlesung über europäisches Recht und überlege, was ich ihnen sagen soll", sagt er. Er mache sich Gedanken darüber, wie lange er noch sein Fach in unveränderter Form lehren könne und ab wann er über die Anwendung von EU-Recht in Polen wie über etwas sprechen müsse, das bereits Geschichte ist.