Noch ist nicht alles zu spät in Afghanistan
20 Jahre lang waren die USA und ihre NATO-Verbündeten militärisch in Afghanistan aktiv und haben Milliarden ausgegeben. Doch unmittelbar nach dem Abzug haben die militanten Taliban ihre Angriffe auf Bezirks- und Provinzhauptstädte im ganzen Land intensiviert, neue Opfer unter der Zivilbevölkerung und Vertreibungen sind die Folge. Allein in den vergangenen Tagen sind über ein halbes Dutzend Provinzhauptstädte von den Taliban eingenommen worden.
Teile von Kundus standen in Flammen, nachdem Taliban-Kämpfer die Stadt eingenommen hatten. Staatliche Einrichtungen wurden geplündert, während die Einwohner versuchten, in andere Teile des Landes zu fliehen, um sich in Sicherheit zu bringen.
Wie konnte es soweit kommen?
In vielen anderen afghanischen Provinzen geschieht das Gleiche: Die Taliban haben das durch den Abzug der internationalen Truppen entstandene Vakuum genutzt, mehr als die Hälfte aller afghanischen Bezirke eingenommen und die meisten Städte belagert. Jeder Afghane, der es sich leisten kann, ist inzwischen ins Ausland geflohen.
All das kommt für viele nicht überraschend - am wenigsten für jene, die die NATO immer wieder aufgefordert haben, weiter im Land zu bleiben. Afghanische Frauen, Aktivisten der Zivilgesellschaft und Jugendliche haben wiederholt verlangt, Mechanismen zu schaffen, mit denen die Taliban nach einem Abkommen mit den USA auch sanktioniert werden könnten. Doch das wurde ignoriert. Die afghanische Regierung ihrerseits war mit internen Streitigkeiten beschäftigt und spielte beim Beschluss des bedingungslosen Abzugs der USA gar keine Rolle.
Die Taliban-Kämpfer ergriffen die Chance und starteten unmittelbar eine Großoffensive. Denn die afghanischen Sicherheitskräfte erhalten ja nun keine Luftunterstützung und keine Aufklärungsdaten der USA und der NATO mehr, sind also auf sich selbst gestellt. Das hat natürlich auch Folgen für die Einsatzmoral der afghanischen Soldaten, die nun keinen Grund mehr sehen, ihr Leben zu riskieren, indem sie sich den Taliban in den Weg stellen.
Fragile Fortschritte
Wirklich weg waren die Taliban nie: Nachdem sie im Dezember 2001 von US-Truppen mit Hilfe von NATO-Verbündeten und lokalen Kriegsherren gestürzt worden waren, tauchten sie sehr bald wieder auf. Sie begannen einen Krieg nicht nur gegen die internationalen Truppen im Land, sondern auch gegen Afghanen, die für die neue Regierung arbeiteten oder einfach nur in den Großstädten lebten.
In den Augen der Taliban sind alle, die die Regierung oder bisher die NATO-Präsenz in Afghanistan unterstützen, Feinde. Grundlegende demokratische Rechte wie das Wahlrecht oder Frauen, die in der Regierung oder in Hilfsorganisationen arbeiten, verachtet die radikale Gruppe.
Afghanistan hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten durchaus Fortschritte gemacht: Millionen von Mädchen und Jungen gehen zur Schule, und Tausende von Männern und Frauen studieren. Doch diese Fortschritte sind äußerst fragil. In jeder zusätzlichen Provinz, die sie erobern, können die Taliban die Schulen für Mädchen schließen und Frauen anweisen, wieder zu Hause zu bleiben.
Was jetzt nötig ist
Noch ist es für die USA und ihre Verbündeten, darunter auch Deutschland, nicht zu spät, konkrete Maßnahmen zu ergreifen und Schadensbegrenzung zu betreiben. Während eine erneute Stationierung von Truppen in Afghanistan für die westlichen Länder aus innenpolitischen Gründen vom Tisch ist, könnten die USA und Europa ihren Einfluss auf Pakistan nutzen, um die Taliban zu einem sofortigen Waffenstillstand zu drängen. Gleichzeitig sollten sie der Regierung in Kabul Mittel zur Verfügung stellen, um den durch den Krieg innerhalb des Landes geflohenen Menschen zu helfen.
Sobald ein Waffenstillstand erreicht ist, muss sich die Diplomatie um den innerafghanischen Friedensprozess kümmern, damit dieser Erfolg haben kann. Die internationale Gemeinschaft muss auch von den Taliban verlangen, dass sie ihre Haltung zu Wahlen und Frauenrechten revidieren.
Es ist wichtig, sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung in die Pflicht zu nehmen und sicherzustellen, dass die Zivilbevölkerung nicht den Preis für einen Krieg zahlt, den sie nicht verursacht hat. Wird all das versäumt, dürfte sich der afghanische Bürgerkrieg bald zu einer neuen Tragödie auswachsen - für die die USA und ihre Verbündeten in der NATO - einschließlich Deutschland - ein gutes Stück Verantwortung tragen.