"Die Maßnahmen, die wir jetzt ergreifen, sind geeignet, erforderlich und verhältnismäßig." Mit diesem Satz aus ihrer Regierungserklärung bringt Angela Merkel unbewusst das ganze Dilemma ihrer Corona-Politik auf den Punkt. Denn tatsächlich ergreift das von ihr geführte sogenannte "Corona-Kabinett" Maßnahmen, mit denen es ohne Zustimmung des Bundestages beispiellos tief in die Grundrechte von 83 Millionen Menschen in Deutschland eingreift.
Um jedes Missverständnis zu vermeiden: Merkel und die Regierungschefs der 16 Bundesländer sind dazu berechtigt. Grundlage ihres Handelns ist das bereits 2001 in Kraft getretene und während der Pandemie mehrmals ergänzte Infektionsschutzgesetz. Eine Art Vollmacht, mit der die Exekutive in einer "epidemischen Lage von nationaler Tragweite" sofort Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung einleiten kann. Genau das hat sie im März mit dem ersten Lockdown im Einverständnis mit dem Parlament getan.
Der Bundestag muss auf seine Kontrollrechte pochen
Damals ging es darum, auf ein weitestgehend unbekanntes, potenziell lebensgefährliches Virus zu reagieren. Das Ziel: Leben retten, Infektionsketten unterbrechen und das Corona-Rätsel lösen. Im März 2020 wussten auch die besten Virologen der Welt wenig bis gar nichts über COVID-19. Deshalb fiel es den Abgeordneten des Bundestages auch leicht, der Regierung einen Blankoscheck auszustellen, also auf ihre Rolle als Gesetzgeber und Kontrollorgan zu verzichten.
Ende Oktober 2020, also sieben Monate nach dem ersten Lockdown, müsste es damit allerdings vorbei sein. Denn inzwischen weiß man viel, wenn auch nicht alles über Corona und wie das Virus erfolgreich bekämpft werden kann. Trotzdem hat sich an der Aufgabenteilung zwischen Regierung und Parlament nichts geändert. Am Mittwoch dieser Woche hat Angela Merkels Corona-Kabinett mit teilweise zähneknirschender Zustimmung der Ministerpräsidenten aus den Ländern den zweiten Lockdown verhängt.
SPD-Fraktionschef Mützenich findet die passenden Worte
Die Begründung dafür lieferte sie erst am Donnerstag mit ihrer Regierungserklärung im Bundestag. Das ist respektlos gegenüber den gewählten Volksvertretern, die sie dafür zu Recht heftig kritisierten. Rolf Mützenich, Fraktionschef der mit Merkels Christdemokraten (CDU) und der bayrischen CSU regierenden Sozialdemokraten (SPD), fand dafür die absolut richtigen Worte: "Selbst in unsicheren Zeiten ist der Reflex zum Durchregieren keine Alternative zum mühsamen Konsensprozess."
Die Bundeskanzlerin zieht es jedoch vor, die Volksvertretung und damit den Souverän weiterhin zu ignorieren. Stattdessen stimmte sie vorab die Bevölkerung in ihrem wöchentlichen Video-Podcast auf weitere Zumutungen ein. Um das klar zu sagen: Manches davon ist angesichts dramatisch steigender Infektions- und auch Todeszahlen unvermeidbar. Aber die teilweise existenzbedrohenden Einschränkungen müssen auch infrage gestellt werden dürfen. Auch außerhalb des Bundestages natürlich, weil einige Maßnahmen alles andere als plausibel sind.
Kultur und Gastronomie müssen sich veräppelt vorkommen
Die erneute Schließung von Restaurants, Hotels, Kinos, Theatern und Konzertsälen trifft jene mit voller Wucht, die sogar von Wissenschaftlern für weitgehend sichere Orte ohne größeres Infektionsrisiko gehalten werden. Angela Merkels Anteilnahme für diese Branchen muss in den Ohren der Betroffenen wie Hohn klingen: "Ich verstehe die Frustration, ja die Verzweiflung gerade in diesen Bereichen sehr." Die vielen erarbeiteten Hygienekonzepte seien nicht sinnlos, sie würden später auch wieder gebraucht, sagte die Kanzlerin weiter. Das Problem: Viele werden durch den zweiten Lockdown endgültig in den Ruin getrieben.
Ihre letzte Chance, diesem Schicksal zu entgehen, wären Klagen gegen die teilweise widersprüchlich und willkürlich anmutende Corona-Politik von Bund und Ländern. Dieser Weg war schon mehrmals von Erfolg gekrönt, nachdem Demonstrationen untersagt oder Beherbergungsverbote und Sperrstunden verhängt worden waren. Dass Hotels nun auf dem Verordnungswege trotzdem wieder keine Privatreisenden übernachten lassen dürfen, ist Ausdruck machtpolitischer Arroganz. Damit schwächen Angela Merkel und die anderen Lockdown-Befürworter ohne Not die Akzeptanz staatlicher Eingriffe insgesamt.
Das Parlament muss seine Zuschauerrolle beenden!
Auch deshalb ist es höchste Zeit, dass sich das Parlament endlich wieder auf seine Kernaufgabe konzentriert und sie auch ausübt: die Kontrolle der Bundesregierung. Angela Merkel warnte in ihrer Regierungserklärung auch vor Lüge und Desinformation. Diese beschädigten nicht nur die demokratische Debatte, sondern auch den Kampf gegen das Virus. Wer wollte der Bundeskanzlerin in diesem Punkt widersprechen? Niemand außer Corona-Leugnern.
Gefahr für die demokratische Kultur in Deutschland geht aber auch von ihrem Politik-Stil aus, wenn sie das Parlament weiterhin nur im Nachhinein über ihre Pläne, Absichten und Entscheidungen informiert. Der Bundestag muss in der Corona-Politik ab sofort wieder Akteur sein. Die Zeit der Zuschauerrolle ist vorbei.