Willkommen in der Realität - in der Corona-Krisen-Realität! 92 Prozent der FDP-Delegierten stimmen in Berlin für den Koalitionsvertrag mit Grünen und SPD. Noch einen Tag zuvor hatten die Sozialdemokraten vorgemacht, dass Einigkeit und Zufriedenheit mit der Führungsmannschaft anders aussieht: 99 Prozent Zustimmung.
In der kommenden Woche soll das Regieren unter Kanzler Scholz losgehen. Doch schon auf dem Weg dahin hat die FDP reichlich Federn lassen müssen. Der großen Euphorie und der schnellen Erfolge der Koalitionsverhandlungen folgten unvermittelt die Niederungen des Pandemie-Managements. Darauf war die FDP nicht vorbereitet.
Holperstart an die Macht
Noch im Wahlkampf hatte Parteichef Christian Lindner versprochen, einen Lockdown oder eine Impfpflicht werde es mit der FDP nicht geben. Die Freiheit des Einzelnen zähle, und diese sei kein Privileg, sondern ein Grundrecht. Außerdem dürfe die Wirtschaft nicht weiter "stranguliert" werden. Auch wegen dieser Versprechen haben viele Bürger die FDP gewählt und ihr ein Ergebnis von 11,5 Prozent beschert.
Doch mit steigenden Corona-Fallzahlen wurde ein Versprechen nach dem anderen von der Freiheitspartei einkassiert. Auch wenn Parteichef Christian Lindner beim Parteitag behauptet, es gebe "keine Kehrtwende der FDP in der Pandemiepolitik".
Die Freidemokraten und der Freedom-Day
Bei einem gemeinsamen Auftritt nach ihrem Wahlsieg verkündeten die drei künftigen Koalitionsparteien stolz, dass alle Corona-Maßnahmen spätestens am 20. März enden sollten. Vor allem die FDP hatte auf eine schnelles Ende der restriktiven Corona-Politik der Merkel-Regierung gedrängt und sich durchgesetzt.
Viele in der Partei träumten von einem "Freedom-Day" wie in Großbritannien, als der der britische Premierminister Boris Johnson im Juli dieses Jahres die Aufhebung aller Corona-Schutzmaßnahmen verkündete.
Doch seitdem die Zahlen der Corona-Infektionen immer weiter stiegen, musste auch die FDP zurückrudern und auf eine härtere Linie einschwenken. Ein Tabu nach dem anderen fiel. Nun sollen Kontaktbeschränkungen möglich sein und 2- oder 3-G (geimpft, genesen, getestet). Sogar eine allgemeine Impfpflicht will FDP-Chef Lindner nicht mehr ausschließen.
Ein Dämpfer nach dem anderen
Und am vergangenen Dienstag die nächste Schlappe für die Liberalen: Das Bundesverfassungsgericht gibt der Bundesregierung recht. Die drastischen Corona-Beschränkungen, die sie erlassen hatte, seien nicht zu kritisieren. Also Ausgangssperren, Schulschließungen, Kontaktbeschränkungen. Auch 80 Bundestagsabgeordnete der FDP hatten mit geklagt; darunter Christian Lindner und Justizminister in spe Marco Buschmann. Schöne Blamage!
Eine Partei und ihr "Frauenproblem"
In der neuen Regierung wird die FDP vier Kabinettsmitglieder stellen. Parteichef Christian Lindner bekommt wunschgemäß das Finanzministerium. FDP-Generalsekretär Volker Wissing wird voraussichtlich Verkehrsminister und Marco Buschmann Justizminister.
Die einzige FDP-Frau im künftigen Kabinett: die weitgehend unbekannte Bettina Stark-Watzinger. Sie soll Bildungsministerin werden und ist Mitglied in der Bundestagsfraktion der FDP, in der Frauen wieder stark unterrepräsentiert sind.
Für die freigewordenen Posten des Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers und des neuen Chefs der Bundestagsfraktion sind wiederum nur Männer vorgesehen. Die FDP hat ein Frauenproblem!
Der Zauber des Anfangs scheint verflogen
Dabei hat die FDP in den Koalitionsgesprächen hart verhandelt und viel herausgeholt: keine Steuererhöhung, keine Tempo 130, keine neue Schulden und Christian Lindner als Finanzminister. Einer aktuellen Umfrage zufolge ist eine Mehrheit von 37 Prozent der Deutschen der Meinung, dass der Koalitionsvertrag am ehesten die Handschrift der Liberalen trägt.
"Fangen wir an" lautete das Motto des FDP-Parteitages in Berlin. In der kommenden Woche geht es los. Dann beginnt die harte Realität des Regierens. Die FDP muss aufpassen, dass sie Wähler und Parteimitglieder nicht weiter verprellt.