Die wichtigsten Ziele der neuen Regierung
24. November 2021"Mehr Fortschritt wagen: Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit", so lautet der Titel des Koalitionsvertrags, den die Sozialdemokraten, die Grünen und die FDP in rund zwei Monaten Verhandlungszeit erarbeitet haben. Die 178 Seiten sind in zehn Kapitel unterteilt. Den Anfang machen die Themen Bildung und Digitalisierung, gefolgt vom Klimaschutz.
Dort lautet der erste Satz: "Unsere Wirtschaft legt mit ihren Unternehmen, den Beschäftigten sowie Verbraucherinnen und Verbrauchern die Grundlage für unseren Wohlstand." Damit ist umrissen, auf was sich die Koalitionäre einigen konnten: Klimaschutz und die Sicherung des Wohlstandes dürfen sich nicht ausschließen.
Deutlich mehr Windräder und Solardächer
Den Strombedarf Deutschlands setzen die Koalitionäre mit 750 Terrawattstunden deutlich höher an als die bisherige Regierung. Es bleibt beim Ziel der bisherigen Regierung, den CO2-Ausstoß bis 2030 um 55 Prozent zu reduzieren. Windkraft und Solarenergie sollen aber deutlich schneller ausgebaut werden: 80 statt bislang 65 Prozent des Stroms sollen bis 2030 aus erneuerbaren Energien kommen. Ein sehr ambitioniertes Ziel.
Solardächer sollen bei Gewerbebauten Pflicht werden, bei Privatbauten die Regel. Dadurch soll die Produktion von Solarenergie verdreifacht werden. Bislang gibt es 31.000 Windräder in Deutschland. Hier müsste das Ausbautempo um das Siebenfache zunehmen. Naturschutzziele sollen hinter dem Ausbau der Windenergie zurückstehen.
Die Grünen sollen das (fast) Unmögliche schaffen
Ein neu zugeschnittenes Ministerium, das die Ressorts Wirtschaft, Klimaschutz und Teile des bisherigen Umweltministeriums in sich vereint und von den Grünen geleitet werden wird, soll die Energiewende packen.
Laut Koalitionsvertrag soll das letzte Kohlekraftwerk "idealerweise" 2030 vom Netz gehen. Bislang war 2038 vorgesehen. Die vage Formulierung "idealerweise" zeigt, dass sich die Grünen in diesem Punkt nicht gegen die SPD und die FDP durchsetzen konnten, die eine längere Laufzeit für die Kohle favorisieren.
FDP-Chef Christian Lindner bezeichnete die Vorhaben als "das ambitionierteste Klimaschutzprogramm" aller Industrienationen. Grenzen setze nur die Physik: "Was politisch und ökonomisch erreichbar ist, ist in diesem Vertrag beschrieben."
Außenpolitik auf den hinteren Seiten
Auf das Kapitel zum Klimaschutz folgen im Koalitionsvertrag verschiedene innenpolitische Themen. Erst in Kapitel sieben geht es um "Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt". 28 Seiten umfasst dieser Bereich, der in die drei Kapitel: "Europa", "Integration, Migration, Flucht", sowie "Außen, Sicherheit, Verteidigung, Entwicklung, Menschenrechte" unterteilt ist.
Entgegen anderslautenden Diskussionen der letzten Wochen soll es auch künftig ein Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) geben. Damit werden auch die Rolle und Notwendigkeit des humanitären Engagements Deutschlands hervorgehoben.
Das Ressort übernehmen die Sozialdemokraten, die auch das Verteidigungs- und das Innenministerium, das Fragen der Migration behandelt, in ihrer Verantwortung haben werden. Das Außenministerium geht an die Grünen. Die FDP ist außenpolitisch und international nicht direkt beteiligt.
China-Strategie gefordert
Einleitend äußern sich die Koalitionsparteien zu aktuellen außenpolitischen Themen. Dabei bekräftigen sie ihre Unterstützung zur Demokratiebewegung und zur Ukraine. Ausdrücklich wird - ohne Russland in dem Satz zu nennen - ein "unverzügliches Ende der Destabilisierungsversuche gegen die Ukraine, der Gewalt in der Ostukraine und der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim" gefordert.
Länger befasst sich der Koalitionsvertrag mit China und benennt Wettbewerb und Systemrivalität. Um in dieser systemischen Rivalität, "unsere Werte und Interessen verwirklichen zu können", brauche es eine umfassende China-Strategie in Deutschland im Rahmen der gemeinsamen EU-China-Politik.
Internationale Zusammenarbeit forcieren
"Die Sicherheit Israels ist für uns Staatsräson", heißt es bei der künftigen (wie bei der bisherigen) Regierung. Sie strebt ein deutsch-israelisches Jugendwerk an.
Mit Blick auf die Lage in der Türkei sieht die Koalition dort viele "besorgniserregende innenpolitische Entwicklungen und außenpolitische Spannungen" und will deshalb keine neuen Beitrittsgespräche zur EU eröffnen.
Auf dem Feld der Außenpolitik wollen die Koalitionäre die Vereinten Nationen als wichtigste Institution internationaler Ordnung stärken und betonen durchgehend den Multilateralismus, die gemeinsame Zusammenarbeit der Staaten. Dafür werde man sich auch beim anstehenden deutschen Vorsitz im Kreis der G7-Staaten einsetzen.
Mehr Gemeinsamkeit in Europa
Die rot-grün-gelbe Koalition fordert laut Vertrag eine "echte gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa". Die EU müsse international handlungsfähiger und einiger auftreten. Dabei wird auch eine stärkere Zusammenarbeit nationaler Armeen mit gemeinsamen Kommandostrukturen und einem gemeinsamen zivil-militärischen Hauptquartier genannt.
Verteidigungspolitisch sticht ein Thema heraus, das seit Ende August umstritten war. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss soll die Evakuierungsmission des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr "aufarbeiten".
Eine Enquetekommission soll mit wissenschaftlichem Sachverstand den 20-jährigen Gesamteinsatz deutscher Soldaten am Hindukusch untersuchen. Das soll dabei helfen, künftige deutsche Auslandseinsätze zu gestalten.
Arbeitsverbote abschaffen
Bei der "Migrations- und Integrationspolitik" planen die Ampel-Parteien einen "Neuanfang hin zu einem modernen Einwanderungsland". Migration solle "vorausschauend und realistisch" gestaltet, "irreguläre Migration" reduziert werden. Unter anderem solle die Visavergabe beschleunigt und digitalisiert werden. "Arbeitsverbote für bereits in Deutschland Lebende schaffen wir ab", heißt es knapp.
Eine Passage am Ende des Koalitionsvertrages hat europapolitische Brisanz. Da ist festgeschrieben, dass die Grünen einen EU-Kommissar oder eine Kommissarin benennen können, falls es keine deutsche EU-Kommissionspräsidentin geben sollte.
Aus einer Antwort des zukünftigen Bundeskanzlers Olaf Scholz zu dieser Personalie schließen einige Beobachter bereits, dass die neue Regierung keine zweite Amtszeit der jetzigen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unterstützen würde.
Mitarbeit: Jens Thurau