Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Wie richtig dieses Diktum ist, zeigt sich in diesen Wochen der mörderischen russischen Invasion in der Ukraine. Aber es ist auch so, dass in solchen Zeiten manche Wahrheiten ausgesprochen werden, die man sonst vielleicht nicht in aller Deutlichkeit äußern würde.
So geschehen dieser Tage in einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Martin Brudermüller, dem Chef des weltgrößten Chemiekonzerns BASF. Gefragt, ob Deutschland mit seinen Öl- und Gasimporten Putins Krieg finanziere, antwortete er, es sei eine Tatsache, dass "die russischen Gaslieferungen bisher die Basis für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie sind". Ein Importstopp würde "unseren Wohlstand zerstören." Diese wettbewerbsfähige Energieversorgung sei ein "wesentlicher Baustein für die wirtschaftliche Stärke Deutschlands."
Auf diese Weise gelang dem Industrieboss eine sehr direkte Beschreibung des bisherigen deutschen Geschäftsmodells, welches dieses Land zu einer der stärksten Wirtschaftsmächte der Welt und zu einer großen Exportnation gemacht hat: Man importiere vergleichsweise günstig Energie, veredle sie in der hochentwickelten heimischen Industrie mit gut bezahlten Facharbeitern zu gefragten Produkten, die man schließlich gewinnbringend rund um die Welt verkauft. Made in Germany - das sind noch immer Produkte von Weltruf.
Russland, China und die Globalisierung
Freilich gehört dazu noch mehr, China zum Beispiel. Deutschlands Unternehmen waren früh genug auf den rasanten chinesischen Wachstumszug aufgesprungen. So wurde China beides: Zum einen ein Lieferant von weiteren wichtigen Rohstoffen, zum anderen ein gigantischer Absatzmarkt. Für die deutschen Autobauer ist China heute der weltweit wichtigste Markt, allein Volkswagen verkauft dort rund 40 Prozent seiner Fahrzeuge. Hinzu kam die rasant voranschreitende Globalisierung, die der Exportnation Deutschland in die Karten spielte.
Billige russische Energie, ein riesiger chinesischer Markt, die Globalisierung und eine starke einheimische Industrie: Aus dieser Mixtur sind zwei Dinge entstanden: Zum einen ein gigantischer Handelsüberschuss (Deutschland exportiert dramatisch mehr als es importiert, was von Deutschlands Handelspartnern bis heute immer wieder kritisiert wird), und zum anderen: eine extreme Abhängigkeit - eben vor allem von Russland und von China.
Nun aber ist durch den brutalen Krieg in der Ukraine vieles ins Rutschen gekommen.
Wie schon zu Beginn der Corona-Pandemie sprechen Beobachter vom "Ende der Globalisierung" - oder zumindest davon, dass man sich bei bestimmten Produkten unabhängiger machen müsse. Das Erlebnis fehlender Schutzkleidung und Masken zu Pandemiebeginn hat vielen auch hierzulande die Augen geöffnet. Die Rufe nach einem Reshoring - also einer Rückverlagerung von Produktionslinien - waren zwar laut, die Umsetzung allerdings erweist sich als sehr komplexe Geschichte.
Eine bipolare Wirtschaftsordnung?
Jetzt aber, mit der russischen Invasion, liegen die Dinge noch einmal anders. Jetzt plötzlich ist Deutschland, ja Europa gezwungen, sich von Energieimporten aus Russland zu lösen, will man dem Aggressor aus dem Kreml nicht weiter die Kriegskasse füllen. Jetzt plötzlich stellt sich auch die Frage nach einer zu großen Abhängigkeit von China neu. Denn Peking sieht sich eher auf Moskaus Seite in diesem Konflikt - nicht aus Nächstenliebe zu Putin freilich, sondern weil es gierig ist auf Russlands Rohstoffe und den riesigen Absatzmarkt. Vereint ist man allenfalls in der Ablehnung westlicher Werte wie Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Toleranz.
Der Krieg markiere das "Ende von 30 glorreichen Jahren der Globalisierung", sagt der anerkannte Ökonom Gabriel Felbermayr. Zerfällt also die Welt wieder in neue Blöcke? Hier der Westen mit Europäern und Amerikanern, dort eine von China dominierte Achse mit Russland und womöglich Indien (auch wenn dies schwer vorstellbar ist: Russland als Juniorpartner? Indien mit China gemeinsam?) Eine solche bipolare Welt, die zwangsläufig auch eine bipolare Wirtschaftsordnung wäre, hätte dramatische Folgen für den Globalisierungsgewinner Deutschland.
Denn damit wären dem bislang erfolgreichen Geschäftsmodell (siehe oben) die Grundlagen entzogen. Es muss also etwas Neues her. Allerdings hat die deutsche Wirtschaft stets eines immer bewiesen: Sie verfügt über eine enorme Anpassungsfähigkeit. Die ist auch jetzt gefragt. Denn die Neuorganisation der Energieversorgung des Landes bietet die einmalige Chance, den ökologischen Umbau der Volkswirtschaft zu beschleunigen.
Wir sollten sehen, das wir möglichst viel der benötigten Energie selbst erzeugen: Billiger Ökostrom und grüner Wasserstoff wären ein echter Standortvorteil. Wenn die Pläne, die Wirtschaftsminister Robert Habeck gerade vorgestellt hat, wonach erneuerbare Energien von "überragendem öffentlichen Interesse" sind und die Stromversorgung in Deutschland somit binnen der kommenden 13 Jahre fast vollständig auf Wind, Sonne, und Biomasse umgestellt sein könnte, dann wäre das ein großer Wurf. Damit sollte auch die deutsche Industrie in die Lage versetzt werden, weiterhin gefragte Produkte mit günstiger Energie herzustellen. Und damit den Wohlstand der Deutschen auch in Zukunft zu sichern.