Es ist eine kaum vorstellbar lange Zeit: In diesem Jahr kann Deutschland auf mindestens 1700 Jahre jüdischen Lebens am Rhein und nördlich der Alpenzurückblicken. Das älteste schriftliche Zeugnis, ein Dekret von Kaiser Konstantin, datiert auf den 11. Dezember 321 und liegt heute in der Bibliothek des Vatikan. In dem an die Stadträte Kölns gerichteten Schreiben verfügte der Herrscher, dass es im Reich erlaubt sei, "Juden in den Rat zu berufen". In Köln hatte man offensichtlich darüber gestritten.
1700 Jahre - eine lange Brücke zwischen Antike und Gegenwart. Wie weit dieses Dekret des Kaisers zurückliegt, zeigt die Erinnerung an ein anderes Datum, das für Europa wesentliche Bedeutung bekam: Gleichfalls im Jahr 321, Anfang März, befasste sich Kaiser Konstantin mit der Feier der Auferstehung am Tag nach dem Sabbat, dem "Tag der Sonne", und sorgte damit für den bis heute geltenden arbeitsfreien Sonntag. Konstantin, der sich durch die damals bekannte Welt kämpfte und siegte und angeblich auf seinem Sterbebett 337 taufen ließ, betrieb Religionspolitik als Herrschaftspolitik und Mittel zur Identitätsstiftung.
"Nicht so wahnsinnig viele gute Nachmittage"
Juden gehören dazu - so lässt sich die Bedeutung des 11. Dezember 321 zusammenfassen. Sie kamen nicht erst irgendwann hinzu. Es sind 1700 Jahre mit manchen Höhen und vielen Tiefen, mit schrecklichem Grauen. Das Zusammenleben war selten entspannt und oft problematisch. "Da waren nicht so wahnsinnig viele gute Nachmittage", sagt Andrei Kovacs, leitender Geschäftsführer des Vereins "321 - 2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland".
Ausgrenzung, Verfolgungen und Ritualmorde, Kreuzzüge, Antijudaismus und Antisemitismus, Rassenhass - jede Stadt in Deutschland mit reicher jüdischer Tradition birgt auch schreckliche Erinnerungen, sehr lange vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus. Ja, es gibt auch reiche Kultur und großartige Erfolge in den Wissenschaften; die Namen der zahlreichen Nobelpreisträger jüdischen Glaubens aus Deutschland sind ein Beleg dafür. All das muss zur Erinnerung aller gehören, nicht nur der jüdischen Community.
Um so wichtiger ist im Jubiläumsjahr der gemeinsame Blick zurück UND nach vorn. Jüdisches Leben in Deutschland ist 2021 so vielfältig wie nie nach dem Holocaust. Heute studieren wieder angehende liberale, konservative und orthodoxe Rabbiner (und Rabbinerinnen) in Deutschland. Es gibt alt-etablierte Gemeinden, betont säkulares Leben, auch junge, bunte Aufbrüche mit großem Selbstbewusstsein. Stark. Und seit der jüdischen Zuwanderung aus der früheren Sowjetunion nach 1990 läuft in vielen Gemeinden eine unglaublich engagierte - vielfach übersehene - Integrationsarbeit. Auf dieses vielfältig vitale Judentum will das Festjahr hinweisen.
Minderheiten nicht ausgrenzen
Das Edikt des Konstantin von 321 bezog sich im letzten auf die politische Einbindung jüdischer Bürger in die Kommunen. Das gilt bis heute: Jüdinnen und Juden sind in der deutschen Politik Ausnahmen. Ja, es gibt eine Landesministerin, einen Oberbürgermeister und den einen oder anderen Landtagsabgeordneten oder kommunalen Mandatsträger. Aber die nur knapp 200.000 Jüdinnen und Juden sind nun mal eine Minderheit. Trotzdem: Der Kaiser mahnte die Notabeln von Köln, diese nicht auszugrenzen. Das gilt für die Politik damals und heute. Damals galt es nur mit Blick auf die Juden, heute gilt es für alle Minderheiten im politischen System - in Deutschland und auf internationaler Bühne.
Dieser 1700. Jahrestag ist Grund zum Feiern. Gewiss, feiern können an erster Stelle die Jüdinnen und Juden in Deutschland oder nördlich der Alpen insgesamt. Aber feiern und gedenken, feiern und nach vorne schauen sollte die ganze Gesellschaft, sollte ganz Deutschland. Dankbar sein für das Erreichte und zuversichtlich, das Geschehene nie zu vergessen. Die Vergangenheit ist vergangen, aber vergessen werden darf sie nicht. Dann kann man zuversichtlich in eine gemeinsame Zukunft leben.