Mein Europa: Zuversicht für den Westbalkan
8. Dezember 2022Ende November/Anfang Dezember 2022 besuchte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Nordmazedonien und Albanien. Zum ersten Mal. Es war ein Besuch der Anerkennung für die EU-Bemühungen der beiden Westbalkanländer - und eine Ermunterung, den Glauben an die europäische Perspektive nicht zu verlieren. Und ich, eine aus Albanien stammende, seit über 25 Jahren in der Bundesrepublik lebende und mittlerweile eingebürgerte Schriftstellerin und Journalistin der Deutschen Welle, durfte unser Staatsoberhaupt begleiten - zusammen mit einer Wirtschaftsdelegation, einem Schauspieler, einem Übersetzer und einem Umweltexperten.
In die EU will die Mehrheit der Menschen in Albanien und Nordmazedonien seit dem Ende des Kommunismus 1989/90. Seit acht Jahren warten sie auf den Beginn der Aufnahmegespräche. Am 19. Juli 2022 war es endlich soweit - aber nach all den Jahren der Enttäuschungen ist die Liebe der Bürgerinnen und Bürger beider Länder zum vereinten Europa mittlerweile ziemlich abgekühlt.
Trotzdem waren die Straßen von Skopje Europa-blau geschmückt, als der Bundespräsident die Altstadt der Hauptstadt von Nordmazedonien besichtigte. In deren Geschichte überlagern sich sehr unterschiedliche Kulturen, man trifft auf das römische, byzantinische und osmanische Erbe gleichzeitig.
Seit Jahrhunderten leben hier verschiedene Ethnien und Glaubensgemeinschaften zusammen. Und das ist für die Menschen unterschiedlicher Kultur, Religion und Sprache, für die slawischen Mazedonier, Albaner, Türken, Roma, Serben und Bosniaken, die in Skopje leben, eine Selbstverständlichkeit - wenn auch nicht jeden Tag eine leichte. Ihre Multikulturalität ist es, die Besucher nicht nur aus Deutschland immer wieder fasziniert.
Identität oder Identitäten?
Im Kulturzentrum "Jadro", einem wichtigen Treffpunkt der unabhängigen Kunst- und Literaturszene Skopjes, traf ich Künstler albanischer und slawo-mazedonischer Prägung, die selbstverständlich zusammenarbeiten. Dennoch ist die Spaltung der Gesellschaft im Vielvölkerstaat Nordmazedonien nicht überwunden. Viele albanische Jugendliche lernen kein Mazedonisch - und nicht wenige junge Mazedonier lehnen das Albanische ab.
Was bedeutet dieser Zustand für die Zukunft einer multikulturellen Gesellschaft? "Sie entscheiden, wie die mazedonische Identität heute und in Zukunft aussehen soll", so Bundespräsident Steinmeier in Skopje. Für was werden sich die jungen Leute letztlich entscheiden: Für eine Mono-Identität? Oder für plurale Identitäten?
Geschichtsgetränkter Boden
Der Balkan lebt von Kontrasten. In einer Konditorei in Skopje wurde ich auf Türkisch mit "Merhaba" begrüßt. Wenig später erfuhr ich, dass die Kellnerin, die mich so begrüßt hatte, eine Albanerin aus Nordmazedonien ist. Zu Hause spricht ihre Familie Albanisch - aber in der Öffentlichkeit Türkisch. Es gebe nicht wenige Albaner in Skopje, die sich selbst als Türken bezeichnen, erzählt sie, "aber sie meinen damit eigentlich, dass sie Muslime sind."
Ich trank meinen Kaffee an diesem verregneten Novembertag und dachte dabei, dass Identität eine vielschichtige Angelegenheit sei. Nicht wie die Pflastersteine aus osmanischer Zeit, die die kleinen Gassen hier prägen; sondern fließend, wie die Wasserrinnen, die ihre Wege zwischen den Steinen auf dem geschichtsgetränkten Boden von Skopje suchen.
Wirtschaftliche Verflechtung
Das Programm des Bundespräsidenten in Skopje war dicht - und der Regen unser ständiger Begleiter. Ein Schwerpunkt der Reise waren die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Nordmazedonien. Deutsches Kapital steckt in 200 Unternehmen in dem 1,8-Millionen-Einwohnerstaat. 30 Prozent der Exporte gehen nach Deutschland.
6000 Mitarbeiter beschäftigt die Dräxlmaier Group, ein großer Automobilzulieferer aus Niederbayern und der größte deutsche Arbeitgeber in Nordmazedonien. Warum hat sich die Firma für dieses Land entschieden - und nicht für Albanien, mein Herkunftsland? Der mitreisende Vertreter der Firma überlegte kurz und antwortete: "Einfach bessere Bedingungen. Bessere Steuererleichterungen und mehr Rechtssicherheit." So knapp kann man die Geschichte der deutschen Nicht-Investitionen in Albanien auch beschreiben.
Die zwei Seiten Albaniens
Nach zwei Tagen in Skopje reisten wir am 1. Dezember mit dem Bundespräsidenten nach Tirana. Die Hauptstadt des 2,8-Millionen-Einwohnerlandes Albanien empfing uns mit mediterranem Klima. Die meisten der 560.000 Einwohner sind offensichtlich jung; beim Spazierengehen versteht man, warum die Stadt 2022 auf Initiative des Europäischen Jugendforums zur "Europäischen Jugendhauptstadt" gekürt wurde.
All das ist schön und wahr - aber nur die eine Seite Tiranas. "Natürlich, wenn man hier ein volles Portemonnaie hat, die Sonne und das gute Essen in den Restaurants genießt, ist die Stadt wunderschön", sagte mir kopfschüttelnd ein junger Mitarbeiter im Hotel. "Aber wir haben die höchsten Benzinpreise in Europa, mit unseren Löhnen können wir heute nicht mal die Lebensmittel bezahlen." Er plane seine Auswanderung nach Italien, wo ein Teil seiner Familie lebe.
Korruption, Kriminalität, Auswanderung
Eine Auswanderungswelle, die nicht so schnell zu stoppen sein wird, leert seit Jahren das Land. Was denen, die gehen, in Albanien fehlt, ist der Glaube daran, dass sie in ihrer Heimat Veränderungen zum Besseren herbeiführen können. Die Geduld der Menschen ist angesichts grassierender Korruption und Kriminalität zu Ende. Und das Ausland leuchtet umso mehr, je mehr in den Medien von morgens bis abends über Korruptionsaffären gesprochen wird - worauf die Justiz mit der Geschwindigkeit einer Schildkröte reagiert. Oder gar nicht.
Viele Albaner verfluchen das Gesundheitssystem - beeilen sich aber, Ärzte unter der Hand zu bezahlen, denn sie haben Angst, sonst nicht gut behandelt zu werden. Wird nach Verantwortlichen gefragt, sind alle Zeigefinger auf die Politik gerichtet - aber die gleichen Politiker, auf die gezeigt wird, schaffen es immer wieder, die Macht zu erlangen. Diese Ohnmacht der Menschen gegenüber der Politik führt dazu, das immer mehr gehen. "Es ist einfacher, nach Deutschland zu ziehen, als zu versuchen, den Westbalkan wie Deutschland funktionieren zu lassen", schrieb der bulgarische Politologe und Politikberater Ivan Krastev einmal.
Pflicht zur Zuversicht
Es gibt eine Pflicht zur Zuversicht, auch in schwierigsten Zeiten, postulierte Immanuel Kant. Aber was könnte den Hoffnungslosen in Albanien Zuversicht geben, wenn das Datum eines Beitritts zur EU in den Sternen steht, während der Wunsch nach einem besseren Leben immer drängender wird, heute, hier und jetzt unbändig geworden ist? Wie kann ein Jugendlicher Zuversicht haben, wenn er weiß, dass er in seiner Heimat nie mehr als rund 300 Euro monatlich verdienen wird - und, wenn er es nach Deutschland schafft, ein Vielfaches mehr? "Zuversicht will ich auch haben", antwortete mir der junge Hotelmitarbeiter, "aber ich such sie mir woanders".
Lindita Arapi ist Journalistin der Deutschen Welle und Schriftstellerin. Auf Einladung des Bundespräsidenten begleitete sie Frank-Walter Steinmeier und seine Delegation vom 29. November bis zum 1. Dezember 2022 auf ihrer Reise nach Nordmazedonien und Albanien. Arapis neuer Roman "Alba" wird auf Deutsch im Frühjahr 2023 beim Weidle Verlag erscheinen.
Mit der Kolumne "Mein Europa" bietet die DW Persönlichkeiten aus dem Kulturleben und der Wissenschaft Mittel- und Südosteuropas Raum, ihre persönliche Sicht auf europäische Themen darzustellen. "Mein Europa" zeigt diverse Perspektiven auf und soll zu einer demokratischen Debattenkultur beitragen.
Dieser Artikel wurde am 15.06. 2023 überarbeitet und durch die korrekte Herkunftsbezeichnung mazedonisch ergänzt.