Mein Europa: Das vergessene Versprechen von Thessaloniki
24. August 2023Im Sommer 2003, vor 20 Jahren, trafen sich die Staats- und Regierungschefs der EU und des Balkans in der Nähe von Thessaloniki. Was seitdem längst Routine geworden ist, war damals ein wichtiges Signal. Die Länder des Westbalkans, geprägt von Krieg, Staatszerfall und autoritärer Herrschaft, sollten ihre Zukunft in der EU haben. Das Versprechen sollte den Übergang von der Nachkriegszeit in eine Phase, die von der Hoffnung auf eine europäische Zukunft geprägt ist, markieren. Doch es kam anders.
Die Probleme der Region konnten nicht alleine durch das Versprechen einer zukünftigen EU-Mitgliedschaft gelöst werden. Als Vermittler waren die Erfolge der EU bescheiden. Es gelang der EU nicht, Bosnien und Herzegowina in einen Staat zu verwandeln, der funktionale Strukturen hat, es gelang auch nicht, den zerstörerischen Ethnonationalismus einzudämmen. Auch über zehn Jahre Vermittlung zwischen Serbien und Kosovo konnten keine nachhaltigen Erfolge erzielen. Zugleich sind Nationalismus und historischer Revisionismus heute stärker ausgeprägt als 2003. Kurzum, die Nachkriegszeit ähnelt eher eine Vorkriegszeit.
Zugleich ebbt auch der Optimismus in der EU ab. Zunächst scheiterte die europäische Verfassung an Referenden in Frankreich und den Niederlanden. Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/2008 hangelt sich die EU von einer Krise in die nächste, so dass scheinbar keine Zeit für ambitionierte Pläne bleibt. Nur Kroatien hat es seitdem in die EU geschafft. Für alle anderen sechs Staaten, denen damals die Mitgliedschaft angeboten wurde, ist es noch ein weiter Weg.
Erweiterungspause noch nie so lang
Noch nie seit 50 Jahren hat die EU eine so lange Erweiterungspause eingelegt. Seit dem Beitritt Irlands, Dänemarks und Großbritanniens 1973 kamen im Rhythmus von weniger als zehn Jahren neue Staaten hinzu. Doch nun liegt nicht nur das Versprechen von Thessaloniki 20 Jahre zurück, auch seit der letzten Neuaufnahme, der Kroatiens, ist ein Jahrzehnt vergangen - und keine neuen Mitglieder sind in den kommenden Jahren zu erwarten. Diese lange Pause überrascht, denn immerhin warten sechs Staaten auf dem westlichen Balkan auf eine Mitgliedschaft, außerdem die Türkei, die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien.
Doch der Prozess geht nicht voran. In der Türkei liegt die Verantwortung überwiegend beim autoritären Präsidenten Erdogan. Auf dem Westbalkan gibt es durchaus lokale Erdogans, die sich, wie er, mit autoritären Techniken an der Macht halten und für die der EU-Beitritt nur ein Lippenbekenntnis ist. Der serbische Präsident Aleksandar Vucic folgt am stärksten dem Vorbild Erdogans, unterhält gute Beziehungen zu Russland, der Türkei, nach China und zu den Golf-Staaten, nur, um von der EU nicht allzu abhängig zu sein.
Keine Antwort auf Autokraten-Plage
Andere Autokraten, vom starken Mann der bosnischen Entität Republika Srpska, Milorad Dodik, bis hin zum albanischen Premier Edi Rama, haben unterschiedliche Beziehungen zur EU, aber alle können im Schatten der EU-Erweiterung überleben. Einige, wie Dodik, positionieren sich als provakante Anti-Westler, kokettieren mit Putin und versuchen, den Frieden in der Region zu untergraben. Andere, wie Rama, setzen auf die EU, missbrauchen aber ihre persönliche Macht.
Die EU hat keine Antwort auf die Autokraten-Plage gefunden. Manche, wie Dodik, werden zwar kritisiert, aber sie können dennoch gut überleben und bekommen Rückendeckung nicht nur aus Moskau, sondern innerhalb der EU auch vom ungarischen Premier Viktor Orban, der Autokraten auf dem Balkan längst zu seinen eigenen Zwecken fördert. Vucic gelingt es immer wieder, sich als Feuerwehrmann zu verkaufen, um die selbstgelegten Feuer zu löschen. Dabei wird die EU oft zum Komplizen - für das kurzfristige Versprechen von Stabilität verschließt sie die Augen vor den Angriffen auf Medienfreiheit und undemokratische Herrschaft in der Westbalkan-Region.
EU kein Hoffnungsträger mehr
Die Mitgliedschaft in der EU und die damit verbundenen Versprechen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind längst nicht mehr das bestimmende Thema. Für die EU geht es um Krisenmanagement, jenseits von Werten - sei es wegen der Migration durch die Region, sei es um den Einfluss Russlands einzudämmen. Auch in der Region ist die EU längst kein Hoffnungsträger mehr. Auf den zahlreichen Demonstrationen gegen Umweltzerstörung und Gewalt und für Demokratie, wie sie nicht nur in Serbien immer wieder stattfinden, wehen keine EU-Fahnen mehr. Zu eng haben die EU und ihre Mitgliedsstaaten mit Autokraten paktiert, längst gilt die Union nicht mehr als Symbol für eine demokratische Zukunft.
Wie es weitergehen könnte, haben wir in der Balkans in Europe Policy Advisory Group (BiEPAG) kürzlich definiert. Die EU-Erweiterung ist seit 2022 nicht mehr nur ein Prozess für den Westbalkan, sondern auch einer für die Ukraine und die Republik Moldau, sowie potenziell für andere Staaten wie Georgien. Dies gibt dem Prozess erneut größere politische Bedeutung. Das heißt, die Staaten sollten eine planbare Zukunft in der EU haben, ohne den Missbrauch von Veto-Rechten von EU-Mitgliedern, wie es Bulgarien gegenüber Nordmazedonien praktiziert.
Verzicht auf Stabilokratie-Konzept
Es bedarf auch zusätzlicher EU-Gelder für zukünftige Mitglieder, so dass das Entwicklungsgefälle zwischen Unions-Mitgliedern und jenen, die es erst werden, kleiner und nicht größer wird. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit müssen im Zentrum der Erweiterung bleiben. Der jetzige Erweiterungskommissar, Oliver Varhelyi, untergräbt als verlängerte Hand von Viktor Orban die Glaubwürdigkeit der EU gegenüber dem Westbalkan, aber auch der Ukraine. Hier bedarf es eines Kommissars mit mehr Gewicht und passendem Hintergrund.
Zudem sollte die EU nicht weiter die Demokratie auf dem Balkan für ein vermeintliches Versprechen von Stabilität oder Kooperation gegen Russland aufgeben. Stabilokraten der Region, also Herrscher, die ein falsches Versprechen von Stabilität zuungunsten der Demokratie der EU verkaufen, sollten entzaubert werden, allen voran, der serbische Präsident Aleksandar Vucic.
Versprechen von Thessaloniki auch für Ukraine wichtig
Wie schwierig dies ist, zeigt sich etwa darin, dass eine Ko-Autorin unserer Studie, Jovana Marovic, ehemalige Ministerin für europäische Integration in Montenegro, am 23. August 2023 am Flughafen in Belgrad verhaftet und ihr die Einreise nach Serbien verweigert wurde. Sie stelle, so die serbischen Behörden, ein vermeintliches "Sicherheitsrisiko" dar. Eine solche Praxis gegenüber Politikern aus serbischen Nachbarländern ist neu - Vucic hat damit eine neue diplomatische Eskalationsstufe eröffnet, nicht nur gegenüber Montenegro, dessen Unabhängigkeit von Serbien er nie akzeptiert hat, sondern in der gesamten Westbalkan-Region.
Es gibt zahlreiche neue Vorschläge für die Methoden der Erweiterung, aber letztlich wird keine funktionieren, wenn der politische Wille fehlt. Die EU muss bereit sein, die Staaten des Westbalkans aufzunehmen, wenn sie die Bedingungen erfüllen.
Wenn es der EU jedoch nicht gelingt, den Westbalkan in die Union zu integrieren, dann klingt auch jedes Versprechen eines Beitritts für die Ukraine unglaubwürdig. Kurzum, es steht weitaus mehr auf dem Spiel, als nur ein 20 Jahre altes Versprechen, das bisher unerfüllt bleibt.
Florian Bieber ist Professor für Südosteuropäische Geschichte und Politik an der Universität Graz. Er leitet die Balkans in Europe Policy Advisory Group (BiEPAG). Sein Buch zum Thema "Pulverfass Balkan" erscheint demnächst im Christoph Links Verlag Berlin.