"So handeln, dass die meisten überleben"
24. März 2020Deutsche Welle: Ärzte und Pflegende aus Italien berichten erschüttert, dass sie in der Corona-Krise nicht mehr alle Patienten adäquat versorgen können. Welche Leitlinien gibt es für Mediziner, die entscheiden müssen, wem sie helfen können?
Georg Marckmann: Wir haben Leitlinien für klassische Triage-Situationen der Katastrophenmedizin, also bei einem Massenanfall von Verletzten, wo die betroffenen Patienten gesichtet und in Behandlungskategorien eingeordnet werden. Was wir noch nicht haben, sind Empfehlungen für die Situation, wie sie in Italien aufgetreten ist - dass wir durch die Ausbreitung von COVID-19 so viele intensiv- und beatmungspflichtige Patienten haben, dass die Kapazitäten der Intensivmedizin nicht mehr ausreichen.
Triage, ein Wort aus der Militärmedizin, bedeutet Einteilung. In welche Gruppen teilt man die Patienten?
Es gibt mehrere Kategorien: akut lebensbedrohlich Erkrankte werden sofort behandelt, die Behandlung schwer Erkrankter wird aufgeschoben, leicht Erkrankte werden später behandelt. Erkrankte ohne Überlebenschancen bekommen eine ausschließlich betreuende, abwartende Behandlung.
Das Entscheidende in Situationen mit ganz vielen Kranken, die wir nicht mehr angemessen versorgen können, ist, dass wir wechseln müssen von einer patientenzentrierten Betrachtung hin zu einer gruppen- oder bevölkerungsorientierten Betrachtung. Bei der patientenzentrierten Betrachtung versuchen wir, die Behandlung optimal auf das Wohlergehen und den Willen des einzelnen Patienten einzustellen.
Bei einer gruppenbezogenen Betrachtung versuchen wir, innerhalb einer Bevölkerungsgruppe sicherzustellen, dass die Erkrankungs- und Todesfälle möglichst niedrig sind. Das setzt Handelnde unter Stress, weil sie das nicht gewöhnt sind.
In Triage-Situationen braucht man also andere Orientierungspunkte. Als Grundregel versucht man so zu handeln, dass die meisten Menschen überleben, weil das im Interesse der Allgemeinheit ist. Wenn wir die Bevölkerung fragen würden, "wie soll man mit solchen Situationen umgehen?", würden wahrscheinlich die meisten sagen: "Ja, man soll so mit diesen Triage-Situationen umgehen, dass die meisten Menschen am Ende überleben."
Sie sind Präsident der Akademie für Ethik in der Medizin. Was können Ethiker in der Corona-Pandemie für Krankenhäuser tun?
Wir müssen nicht bei null anfangen: Die österreichische Gesellschaft für Intensivmedizin hat eine Empfehlung für die Durchführung von Intensivtherapie bei Covid-19-Patienten erarbeitet, auch aus der Schweiz liegt inzwischen eine entsprechende Richtlinie vor. Neu ist eine Empfehlung aus den USA mit einer Handreichung für ethische Unterstützungssysteme wie Ethik-Komitees oder Ethik-Beratung.
Wir dürfen die Akteure in dieser Stresssituation nicht allein lassen. Es ist ethisch geboten, Empfehlungen zu erarbeiten, wie die Einzelnen mit der Knappheit von Ressourcen angemessen umgehen können. Das ist für alle Beteiligten eine Ausnahmesituation. Wir haben ein sehr gut ausgestattetes Gesundheitssystem, in dem wir in der Regel keine Auswahl zwischen mehreren behandlungsbedürftigen Patienten treffen müssen. Auch für das Vertrauen der Bevölkerung ist es wichtig, dass wir Kriterien und Verfahren definieren, wie man mit der drohenden Knappheit an Intensivkapazitäten umgehen soll.
Sollten in einer Krise, wenn Beatmungsplätze und Intensivpflege fehlen, diejenigen behandelt werden, die die Hilfe am dringlichsten brauchen, oder die mit den besten Überlebenschancen?
Wir haben sonst immer eine Zuteilung nach Dringlichkeit: Wer am schwersten krank ist, hat Zugang zu den intensivsten Ressourcen. In Situationen, wo die Kapazitäten nicht mehr ausreichen, wechseln wir immer mehr zu einer erfolgsorientierten Zuteilung. Das ist im Triage- und Katastrophenfall so und wäre wohl auch gut begründet in einer Situation, wo wir zu viele beatmungspflichtige Patienten haben und nicht mehr alle beatmen können.
Priorität muss immer haben, dass wir versuchen, die Kapazitäten zu erweitern. Das wird in Deutschland intensiv getan. Das ist ebenso ethisch geboten wie die verfügbaren Kapazitäten optimal zu nutzen, also zum Beispiel Intensivbetten zu koordinieren, möglicherweise auch Patienten auszutauschen.
Beatmungspflichtige COVID-19-Patienten sind regional nicht gleich verteilt. Im Kreis Heinsberg gab es sehr viele Erkrankte, dort in den Krankenhäusern müssen sehr viele schwerkranke Patienten behandelt werden. Es gibt andere Regionen, wo bisher deutlich weniger Fälle aufgetreten sind. Es ist ein Gebot der Solidarität, dass wir gemeinsam die verfügbaren Ressourcen bestmöglich nutzen und dass es nicht zu Verteilungskämpfen kommt.
Wie lässt sich zweifelsfrei schnell feststellen, welcher Patient in welche Gruppe gehört?
Die Einschätzung der Prognose von Patienten hat in der Intensivmedizin eine lange Tradition. Wo wir noch etwas unsicher sind, ist die Prognose von COVID-19-Patienten. Aber da gibt es erste Daten aus Italien, wo man versucht hat, Kriterien herauszufinden, mit denen man die Sterbewahrscheinlichkeit der schwerkranken Patienten einschätzen kann.
Was muss man für Ärzte und Pflegepersonal tun?
Sehr relevant ist es, das Gesundheitspersonal zu schützen. Ganz hohe Priorität hat die Verfügbarkeit von Schutzanzügen, von Atemmasken, da gibt es nach wie vor Versorgungsengpässe. Wir sind davon abhängig, dass wir gesundes Gesundheitspersonal haben, um die Vielzahl von COVID-19-Patienten angemessen versorgen zu können.
Bei der psychischen Belastung des Gesundheitspersonals durch Zuteilungsentscheidungen ist es wichtig, dass es Vorgaben gibt, nach welchen Kriterien diese erfolgen sollen. Es sollte kollegiale Unterstützung geben, damit nicht der Einzelne allein entscheiden muss. Ethische Beratungsorgane können die Entscheidungen nicht abnehmen, aber die Teams entlasten. Wichtig wäre auch Support für diejenigen, die mit der Belastung nicht zurechtkommen, etwa ein Notfall-Telefon mit Psychologen oder Seelsorgern - geschult in Notfallseelsorge oder Notfall-Betreuung.
Wir versuchen alles in Deutschland, um tragische Entscheidungen zu vermeiden oder möglichst wenige tragische Entscheidungen treffen zu müssen. Aber wenn es dazu kommt, müssen wir vorbereitet sein und das Gesundheitspersonal in diesen Entscheidungen unterstützen.
Es ist auch Angehörigen besser zu kommunizieren und fördert das Vertrauen in der Bevölkerung, dass diese Entscheidungen, wenn sie denn nicht zu vermeiden sind, in einer transparenten, fairen, medizinisch und ethisch gut begründeten Weise erfolgen.
Um welche Kriterien geht es?
Man wird die Erfolgsaussichten intensivmedizinischer Behandlungen einschätzen müssen. Da ist der Schweregrad der akuten Atemnot-Erkrankung ein Kriterium. Zudem ist zu berücksichtigen, ob relevante Begleiterkrankungen die Prognose des Patienten verschlechtern und wie der Allgemeinzustand ist, ob jemand beispielsweise sehr gebrechlich ist. Wichtig ist auch zu definieren, welche Kriterien keine Rolle spielen sollten: Familienstand, der soziale Status oder kulturelle Hintergrund. Keiner ist von vornherein bevorzugt oder benachteiligt, das wird nach medizinischen und ethischen Kriterien entschieden.
Ich glaube, dass wir in Deutschland ein hochentwickeltes Gesundheitssystem haben, wo wir einige Reserven mobilisieren können, um die Schwerkranken mit COVID-19 angemessen zu versorgen. Zudem haben wir ein gut funktionierendes System medizinischer Fachgesellschaften, die sehr aktiv sind.
Es gibt schon eine Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin für die palliative Versorgung von schwerstkranken Patienten, die nicht mehr lebensverlängernd behandelt werden können. Andere Fachgesellschaften arbeiten an Empfehlungen für die Entscheidungen über begrenzte intensivmedizinische Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie. Unsere Fachgesellschaft, die Akademie für Ethik in der Medizin, hat einige Empfehlungen und Materialien online gestellt und wird sich darum kümmern, welche Möglichkeiten der Ethikberatung für die Handelnden vor Ort angeboten werden können.
Prof. Dr. med. Georg Marckmann ist Leiter des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Präsident der Akademie für Ethik in der Medizin.
Das Interview führte Andrea Grunau.