Strommessungen an Zellen
18. November 2014Trifft der Zahnarzt mit seinem Bohrer einen Nerv, leitet der das Schmerzsignal sofort ans Hirn weiter. Hat man aber vorher eine Betäubung erhalten, kommt das Signal dort gar nicht erst an. Der Grund: Der Wirkstoff stoppt die Stromweiterleitung an der Zellmembran.
Unter welchen Bedingungen eine Zellmembran Strom durchlässt oder nicht, ist nicht nur für Betäubungsmittel entscheidend, sondern für sehr viele andere Medikamente. Münchener Forscher haben jetzt ein Verfahren zur Marktreife gebracht, mit dem sie die Stromleitung von Zellen unter Zugabe verschiedener Wirkstoffen messen können - und zwar in kürzester Zeit. Dafür wurden sie für den Deutschen Zukunftspreis 2014 nominiert.
Proteine, die auch Löcher sind
Die Stromweiterleitung in Zellen geschieht durch Ionenkanäle. Das sind Proteine, die darüber entscheiden, ob Strom durch eine Zellmembran hindurch kommt oder nicht.
"In jeder Zelle im menschlichen Körper gibt es eine Vielzahl verschiedener Ionenkanäle, die für die Kommunikation zwischen den Zellen eine große Rolle spielen und die für die elektrische Leitfähigkeit und das Umsetzen elektrischer Signale in irgendwelche Reize wichtig sind", sagt der Münchner Physiker Niels Fertig.
Er beschäftigt sich seit seinem Studium mit diesen länglich geformten Transmembran-Proteinen. Bei Fehlverhalten der Ionenkanäle komme es zu Krankheitsbildern, sagt er: "Da können Medikamente ganz subtil eingreifen, indem sie zum Beispiel das Öffnen und Schließen von solchen Kanälen beeinflussen."
Einfluss auf eine Vielzahl von Krankheiten
Jeder Zelltyp hat andere Ionenkanäle. Fertig schätzt, dass bis zu fünfzehn Prozent aller Medikamente am Markt auf diese wirken. Neben Schmerzmitteln gehören Herzmedikamente dazu, oder etwa Psychopharmaka. Auch Epilepsie und Diabetes wird von Ionenkanälen beeinflusst.
Deshalb müssen alle Wirkstoffe, die neu auf den Markt kommen sollen, auf potenzielle Nebenwirkungen in Bezug auf Ionenkanäle getestet werden. So können Hersteller ausschließen, dass ein neues Medikament zum Beispiel Herzrhythmusstörungen auslöst oder irgendwelche anderen Nebenwirkungen hat.
Ionenkanalmessungen sind aber auch nötig, um ganz neue Wirkstoffe für bestimmte Krankheitsbilder zu finden. Häufig müssen richtig viele Messungen durchgeführt werden. "Im ersten Anlauf werden dort gut hundertausende, manchmal auch über eine Million Substanzen getestet. Dann werden die besten zehntausend herausgesucht - also die, die irgendeine Wirkung zeigen", beschreibt Fertig den langwierigen Forschungsprozess. "Dann wird weiter gesiebt, bis man die Substanz hat, die man am interessantesten findet."
Noch vor wenigen Jahren ging das nur per Hand: Mit einer speziellen stromführenden Pipette musste sich ein Laborant eine extra dafür gezüchtete Zelle greifen und diese an einem bestimmten Wirkstoff testen - eine mühsame und langwierige Aufgabe.
Roboter arbeiten schneller
Deshalb hat Fertig mit seinen beiden Physikerkollegen Michael George und Andrea Brüggemann und ihrer Firma NANION ein robotisches Hochdurchsatz-Verfahren entwickelt, mit dem die Tests etwa tausendmal schneller gehen.
Dabei kommt keine Pipette mehr zum Einsatz, sondern ein Chip aus Borosilikat. Darauf liegen, wie auf einem Schachbrett, 384 kleine umrandete Felder - jeweils wie ein kleiner Topf mit vier Millimetern Kantenlänge. Darin eine Lösung voller gezüchteter Zellen mit ganz bestimmten ausgewählten Ionenkanal-Typen.
Am Boden jedes Topfes ist ein winziges Loch. "Diese Öffnung hat einen Durchmesser von etwa einem Mikrometer, ist also sehr klein - etwa das Hundertstel des Durchmessers eines Haares", erklärt der Physiker. "Man gibt ein Tröpfchen dieser Zellsuspension auf den Chip und dann legen wir Unterdruck an und saugen eine Zelle aus der Lösung auf die Öffnung in dem Chip."
Je nachdem, ob die Ionenkanäle in der Zellmembran in dem Moment offen sind oder geschlossen, fließt jetzt Strom durch das Loch oder eben nicht. Dann gibt ein Roboter einen Wirkstoff dazu. Reagieren die Ionenkanäle darauf, gibt es sofort eine Veränderung beim Stromfluss. Der wird in einem Computer erfasst und ausgewertet.
Detaillierte Analysen des Proteinverhaltens
Aber die Medikamentenentwickler können noch viel mehr herausfinden. "Ich kann Spannungsprotokolle fahren, um die Zelle in bestimmte Situationen zu bringen – um die Ionenkanäle in einer bestimmten Rhytmik zu stimulieren", zählt der Erfinder die Möglichkeiten auf: "Ich habe also ganz kontrollierte Bedingungen und kann jeden Fall, dem eine Zelle im menschlichen Körper ausgesetzt sein kann, nachstellen."
2002 hat Fertig mit zwei Kollegen aus der Universität das Unternehmen Nanion gegründet. Michael George war der erste Mitarbeiter im neuen Startup. Ein Jahr später konnten sie die Physikerin Andrea Brüggemann dazu gewinnen. Anfangs entwickelten die drei Forscher erste Roboter, die nur eine Zelle untersuchen konnten. Später steigerten sie die Zahl auf vier, acht und zuletzt 96 Zellen.
Normierte Behälter für biotechnische Wirkstoffe
Der große industrielle Durchbruch kam allerdings erst 2013 mit dem Chip für 384 Zellen. Der passt nämlich genau zu einem Industriestandard für Pipettier-Roboter, den alle großen Pharmafirmen und Forschungseinrichtungen nutzen.
"Nachdem wir diese Idee hatten, bis zum Verkauf des ersten Geräts vergingen sechs Monate, also eine sehr, sehr schnelle Entwicklung", erinnert sich der Biophysiker Michael George. "Die Module machen es uns auch einfacher, viele Geräte zu produzieren: Wir müssen nicht selbst die großen Pepittierroboter auf Lager halten, sondern wir können zum Kunden nur mit diesem Modul kommen, und der Pipettierroboter wird von einer anderen Firma aufgebaut."
Die Industrie stand bei Nanion schon Schlange, bevor das erste Gerät Ende 2013 ausgeliefert wurde. Mittlerweile stehen Apparate weltweit so gut wie bei allen großen Pharmaunternehmen und in akademischen Forschungslaboren.
Grüdergeist an der Universität
Diesen durchschlagenden Erfolg der jungen Firma schreibt George allerdings nicht nur dem eigentlichen Nanion-Erfinderteam zu, sondern auch der Hochschule, an der er und sein Kommilitone Niels Fertig promoviert haben - der Ludwig Maximilian Universität in München.
"Entscheidend ist natürlich der Niels, der das gerne wollte, aber wir hatten auch Rollenmodelle und Vorbilder im Center for Nanoscience," sagt George. Dort habe es in den Jahren davor relativ viele Neugründungen gegeben. "Das hat uns gezeigt, dass so etwas möglich ist." Auch habe die Universität die frisch promovierten Unternehmensgründer anfangs mit Räumen und auch mit einer halben Stelle unterstützt.
Das Umfeld sei sehr entscheidend: "Wir haben gesehen, dass wir als Vorbild für nachfolgende Firmen sehr wichtig waren. Da ist viel Austausch - man hat einfach Leute, die man kennt, die das gemacht haben und man kann mit Gründern sprechen", meint Fertig. So ein "Spirit und eine Gründerkultur" seien einfach wichtig, damit Forscher ihren Ideen Leben verleihen können.