Kein Problem mit Lösungsjournalismus?
14. Dezember 2020Welchen Artikel würden Sie lieber lesen: Einen, der anhand von Fakten aufzeigt, wie schlimm ein Problem ist - oder einen, in dem auf Grundlage derselben Fakten mögliche Lösungswege entwickelt werden? Auch in der größten Krise ist konstruktiver oder lösungsorientierter Journalismus möglich - zum Beispiel darüber, welche Konzepte in anderen Regionen der Welt geholfen haben, die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen.
Konstruktiver Journalismus weltweit
Konstruktiven Journalismus ist kein neues Phänomen. Aber erst im vergangenen Jahrzehnt haben Medienschaffende auf aller Welt angefangen, ihn so zu nennen, dazu zu forschen und Konzepte zu konkretisieren. Und nicht zuletzt: sich zu organisieren. Die Französin Nina Fasciaux ist Europa-Koordinatorin des "Solutions Journalism Network" (SJN). Das internationale Netzwerk betreibt unter anderem eine Datenbank, in der Beispiele für lösungsorientierten Journalismus zusammengetragen werden - Stand Mitte Dezember sind darin rund 10.700 Artikel aus 174 Ländern verzeichnet.
Dabei steht konstruktiver Journalismus aus Fasciaux' Sicht nicht in Konkurrenz zu anderen Kategorien journalistischer Arbeit: "Es geht dabei nicht darum, unsere bisherige Arbeitsweise zu ersetzen. Wir werden immer über Probleme berichten, wenn sie auftreten, und das ist auch gut so. Ich sehe es eher als neues Werkzeug an, das zu unserer Berichterstattung hinzugefügt wird."
Konstruktiv, aber kritisch
Einer der Kritikpunkte, die im Zusammenhang mit konstruktiven Journalismus auf Branchentagungen häufig gemacht werden, lautet, dieser sei häufig zu unkritisch oder zu oberflächlich. Auch bei einer digitalen Diskussionsrunde des Global Media Forum (GMF) der Deutschen Welle wurden solche Punkte diskutiert. Die dänische Medientrainerin und Beraterin Gerd Maria May antwortete darauf: "Als Journalisten müssen wir kritisch sein, egal worum es geht: Wenn wir Probleme betrachten, müssen wir uns unserer Fakten sicher sein. Das ist genauso, wenn wir auf Lösungen schauen - man muss kritisch bleiben."
Das schließt auch ein, die kritische Distanz gegenüber dem Berichtsgegenstand zu wahren. Nina Fasciaux, die ebenfalls zur GMF-Session zugeschaltet war, sagt: "Ich glaube wirklich, wir dürfen nicht mit Aktivismus für eine Sache flirten." Dafür gebe es Werkzeuge abseits des Journalismus. "Es ist möglich, lösungsorientiert und gleichzeitig kritisch zu berichten, indem man auch die Grenzen, Herausforderungen und Risiken einer Lösung betrachtet, oder die Grenzen der Übertragbarkeit." Einige Journalisten hätten, wenn sie über Lösungen berichten, das Gefühl, sie müssten nett klingen und Lösungen bewerben. "Ich glaube das Gegenteil", sagt Fasciaux: "Sie sollten mit der selben Strenge berichten wie über Probleme."
Auch Gerd Maria May sagt, es sei nicht die Rolle von Journalisten, von "richtigen Wegen" zur Problemlösung zu sprechen: "Wir nutzen unsere Fähigkeiten bei der Recherche, um herauszufinden, was andere Menschen getan haben, und welche Lösungen uns dazu inspirieren können, wie wir unsere eigenen Probleme lösen können."
Journalismus macht Schule
May hat ein siebenwöchiges Unterrichtsmodell entwickelt, mit dem an einigen dänischen Sekundarschulen nicht nur Medienkompetenz im Allgemeinen, sondern auch konstruktiver Journalismus gelehrt wird. Dazu hat sie das womöglich erste Lehrbuch darüber verfasst. "Mit konstruktivem Journalismus gelingt es leichter, die Berichterstattung für junge Menschen relevant zu machen", sagt May: "Man kann ein Thema aussuchen, das die jungen Leute als Problem ansehen und ihnen mit konstruktivem Journalismus beim Lösen des Problems helfen."
Und es gibt Hinweise darauf, dass das Interesse junger Menschen für Journalismus dadurch wächst: In einer Befragung des weltweiten Publikums des BBC World Service aus dem Jahr 2015 gaben zwei Drittel der Unter-35-Jährigen an, sie wünschten sich von Medien nicht nur, auf Probleme hingewiesen zu werden, sondern auch, über Lösungsansätze informiert zu werden.
Journalismus im Wandel
Bei der GMF-Veranstaltung warnte Michelle Müntefering, Staatsministerin für Internationale Kulturpolitik beim Auswärtigen Amt, für viele Leser, Hörerinnen und Zuschauer sei Schwarz-Weiß-Malerei attraktiver als die Graubereiche dazwischen. "Je provokanter und abstruser, desto aufregender. Eine solche Umgebung ist fruchtbarer Boden für Verschwörungstheorien und behindert Zwischentöne."
Im konstruktiven Journalismus wird hingegen Wert darauf gelegt, solche Zwischentöne zu nuancieren, da häufig auch die Wirkung der eigenen Berichterstattung auf das Publikum reflektiert wird. Die Vision von SJN-Europakoordinatorin Nina Fasciaux geht noch weit darüber hinaus: "Die Rolle wandelt sich, weg vom Wachhund, der Probleme hervorhebt, hin zum Leithund, der sagt, diese Modelle scheinen zu funktionieren." Dabei sollten Medienschaffende ihr Publikum seine eigenen Schlüsse ziehen lassen, sagt Fasciaux: "Sie können sogar mit den Menschen interagieren und sie über die Lösungen aus den Berichten diskutieren lassen."
Auch wirtschaftlich ein Zukunftsmodell?
Seitdem Anbieter wie Facebook und Google Werbetreibenden im Internet die Möglichkeit geben, ihre Adressaten viel gezielter zu erreichen als mit breit gestreuten Zeitungsanzeigen, wird die wirtschaftliche Situation für die meisten werbefinanzierten Medienhäuser immer prekärer. Der Einbruch des Werbemarkts infolge der Corona-Wirtschaftskrise hat diesen Zustand weiter verschlimmert. Gleichzeitig wächst die Bereitschaft vieler Menschen rund um den Globus, für Online-Berichterstattung zu zahlen, wie der jüngste Reuters Digital News Report nahelegt: Von Abonnenten oder Mitgliedern finanzierte Modelle legten deutlich zu - in Norwegen bezahlten 2019 demnach bereits 42 Prozent der Bevölkerung für Online-Journalismus, acht Prozentpunkte mehr als im Vorjahr.
Auch dafür könnten konstruktiver Journalismus und derlei Leserbindung eine Lösung sein, glaubt Gerd Maria May: "Medien brauchen Menschen, die loyal sind, immer wieder zurückkommen und gerne dazugehören wollen. Um das zu erreichen, scheint lösungsorienterter Journalismus ein Mittel zu sein."