Ungarn: Unabhängige Presse in Gefahr
24. Juni 2020Es gibt in Ungarn nur noch wenige wirklich unabhängige Medien. Wegen ihrer überwiegend beschränkten Reichweite kann der ungarische Premier Viktor Orbán sie getrost dulden. Mit einer Ausnahme: der des Nachrichtenportals Index. Es ist das mit großem Abstand meistgelesene Portal Ungarns und steht für vorbildlichen unabhängigen Qualitätsjournalismus. Sehr zum - manchmal ganz offen vorgetragenen - Ärger von Orbán, seinen Parteifreunden und seiner Regierungsmitglieder.
Immer wieder gab es in der Vergangenheit aus dem regierungsnahen Umfeld Anzeichen dafür, dass Index auf trickreiche Weise unter Regierungseinfluss gebracht oder seine kritische Linie zumindest entschärft werden sollte. Bislang konnte sich das Portal gegen alle derartigen Manöver behaupten. Nun jedoch läutet der Index-Chefredakteur Szabolcs Dull die Alarmglocken. "Die Index-Redaktion ist in Gefahr", schrieb er am vergangenen Sonntag abend in einer Stellungnahme, die von mehr als hundert Redakteuren und Mitarbeitern des Portals unterzeichnet wurde.
Zeiger auf "Gefahr"
Zugleich stellte die Index-Redaktion ihren 2018 auf einer externen Webseite eingerichteten Unabhängigkeitsanzeiger von Stufe grün mit der Signatur "unabhängig" auf Stufe gelb. Sie bedeutet: "In Gefahr". Sollte der Zeiger irgendwann auf das rote Feld mit der Beschriftung "nicht unabhängig" fallen, dann wäre das nicht einfach nur das Ende eines weiteren wichtigen unabhängigen Mediums in Ungarn. Vielmehr könnte man dann durchaus vom Ende der Pressefreiheit in Ungarn sprechen.
Index, gegründet 1999, hat es mit einer Mischung aus gut verständlichem und aufklärerischem politischen Journalismus, vielen investigativen Recherchen, Sozialreportagen, Kultur-, Boulevard- , Video- und Blogangeboten zum meistgelesenen Medium Ungarns gebracht. Die Zahl der täglichen Seitenbesuche beträgt derzeit etwa 1,5 Millionen - bei einer Bevölkerung von zehn Millionen.
Bereits in der Vergangenheit gab es mehrfach wenig transparente Eigentümerwechsel, die bei Index für Unruhe sorgten. Der letzte ist erst wenige Wochen her: Ende März erwarb der Medienunternehmer Miklós Vaszily einen 50-Prozent-Anteil an der Firma Indamedia, die für Index das Anzeigengeschäft managt. Vaszily hat bereits mehrmals Medien auf Regierungslinie gebracht, unter anderem das einst unabhängige Portal Origo, und ist derzeit unter anderem Chef des regierungsnahen Senders TV2. Nun steht die Befürchtung im Raum, dass Index über den Hebel von Werbeeinnahmen erpresst werden könnte.
Zerschlagung der Redaktion in kleine Einheiten
Indirekt mit Vaszily zu tun hat auch das jetzige Alarmsignal des Index-Chefredakteurs und der Redaktion. Ein externer Berater, dem nachgesagt wird, mit Vaszily verbunden zu sein, unterbreitete der Index-Geschäftsleitung den Vorschlag, die Redaktion aus Gründen der Kostenersparnis größtenteils aufzulösen und ihre Mitarbeiter auf ausgelagerte kleine Firmen zu verteilen, die für Index Medieninhalte liefern. Für Index wäre das wohl der Anfang vom Ende des unabhängigen Journalismus.
Zwar versicherte der Index-Geschäftsführer László Bodolai am gestrigen Montag eilig, dass der Vorschlag abgelehnt worden sei, deshalb seien die Befürchtungen der Redaktion unbegründet. Gleichzeitig entließ er den Chefredakteur Szabolcs Dull jedoch als Mitglied der Geschäftsführung. Dull wollte sich gegenüber der DW nicht zu dem gesamten Vorgang äußern. Auch Miklós Vaszily ließ eine Anfrage der DW unbeantwortet. Ein Index-Redakteur, der nicht genannt werden will, sagte der DW jedoch, die Befürchtungen seien "vollständig begründet", der Vorschlag zur Zerschlagung der Redaktion sei eine "reale und sehr ernsthafte Grenzüberschreitung". Erst wenn die Redaktion eine Garantie erhalte, dass der Plan nicht realisiert werde, könne man den Unabhängigkeitszeiger wieder auf grün stellen.
Die Befürchtungen der Index-Redaktion sind auch deshalb begründet, weil Viktor Orbán die ungarische Medienlandschaft schon seit einem Jahrzehnt mit derartigen Methoden neu aufteilt und unter Kontrolle bringt. Bereits 2010, nur wenige Monate nach seinem Machtantritt, ließ er den gesamten öffentlich-rechtlichen Medienbereich Ungarns zerschlagen und in kleine Einheiten aufteilen, wobei sämtliche nicht-konformen Journalisten Stück für Stück entlassen wurden.
Deutsche Mitschuld an Medienumgestaltung
Die privaten Medien setzt die Orbán-Regierung vor allem über Werbeeinnahmen unter Druck. Sie erhalten so gut wie keine der lukrativen staatlichen Werbeaufträge. Es gilt auch als offenes Geheimnis, dass Privatunternehmen aus Furcht vor wirtschaftlichen Nachteilen oder behördlichen Schikanen weitgehend vermeiden, in unabhängigen Medien zu inserieren. Bei vielen einst explizit kritischen Medien, etwa den Fernsehsendern RTL Klub oder ATV, ist deshalb festzustellen, dass sie zahmer geworden sind.
Eine Mitschuld an der Transformation der ungarischen Medienlandschaft tragen auch deutsche Unternehmen und Medienkonzerne. Sie waren einst stark präsent in Ungarn, haben sich im vergangenen Jahrzehnt fast alle aus dem Land zurückgezogen und Orbán die Übernahme unabhängiger Medien erleichtert. Eine besonders unrühmliche Rolle spielte die Deutsche Telekom, die das große, regierungskritische Portal Origo 2015 mutmaßlich deshalb verkaufte, weil sie an Aufträge zum Ausbau des Breitband-Kabelnetzes in Ungarn gelangen wollte. Die Telekom bestritt das und nannte den Origo-Verkauf "Profilbereinigung".
Oligarchen "spenden" Medien
Zuletzt war es eine Mafiafilm-reife Aktion im regierungstreuen Medienbereich, mit der die Orbán-Regierung für Aufsehen sorgte: Ende 2018 "spendeten" Orbán-nahe Geschäftsleute an ein und demselben Tag insgesamt 476 Medientitel an eine staatliche Medienstiftung - ohne offizielle Gegenleistung.
Sollte nun auch Index auf Regierungslinie gebracht werden, dann wäre das, sagt der Redakteur, der nicht mit Namen genannt werden möchte, ein tiefer Einschnitt in der jüngeren ungarischen Pressegeschichte und ein großer Verlust für die ungarische Gesellschaft.