"Fahndung nach Amri begann viel zu spät"
15. September 2017"Maßnahme 300" lautet der Codename für die sofortige systematische Kontrolle sämtlicher islamistischer Gefährder in der Bundesrepublik. Nach dem Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember vergangenen Jahres wurde die notwendige Großfahndung aber erst exakt um 23.08 Uhr ausgelöst, also mehr als drei Stunden nach dem Blutbad auf dem Weihnachtsmarkt. Dies zeigt ein unveröffentlichter polizeiinterner Bericht, aus dem mehrere Medien zitieren.
Chaos in der Führung
Weder die Leitstellen noch der Polizeiführer hätten eine Sofortfahndung nach dem Fahrer des Todeslastwagens ausgelöst, heißt es demnach in dem 120 Seiten starken Abschlussbericht. Schließlich hätten Staatsschützer auf eigene Faust eine Kontrolle bekannter Gefährder in Berlin veranlasst. Erst viel später habe die Polizeiführung dann eine bundesweite Überprüfung aller Gefährder in Gang gesetzt. Einige Bundesländer waren da schon längst aktiv geworden.
In den ersten Stunden nachdem der tunesische Attentäter Anis Amri einen gestohlenen LKW in die Menschenmenge an der Gedächtniskirche gesteuert hatte, wurden also weder die Umgebung des Tatorts abgesucht noch mögliche Fluchtwege oder Grenzübergänge überwacht, wie aus dem Report hervorgeht. Viel zu spät seien die bei einer "Terrorlage" vorgesehenen Eilmaßnahmen eingeleitet worden, berichteten Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb), die Zeitung "Berliner Morgenpost" sowie das Magazin "Focus" über die brisante Analyse. Anis Amri blieb so bei seiner Flucht lange unbehelligt.
Amoklauf oder Terrorakt?
Für die verzögerte Tätersuche findet der Bericht der sogenannten "Nachbereitungskommission" der Polizei demnach drei Erklärungen. Vor allem soll die rasche Festnahme eines irrtümlich für den Schuldigen gehaltenen Pakistaners die Arbeit gebremst haben. Zum anderen werden "unzureichende Lagekenntnisse des Polizeiführers" beklagt. Spezialisten des Berliner Landeskriminalamtes seien frühzeitig von einem Terrorakt ausgegangen, während der Polizeiführer die Situation als "Verdacht Amoklage" klassifiziert habe, berichtete die "Berliner Morgenpost".
Drittens sei noch eine halbe Stunde nach dem Anschlag unklar gewesen, wer den Polizeieinsatz überhaupt leiten sollte. "Eine einheitliche Führung des Einsatzes war für die Einsatzabschnittsführer nicht wahrnehmbar", zitierte der "Focus" aus dem Bericht. Zudem seien die für einen Anschlag erarbeiteten Einsatzpläne nicht allen Führungskräften bekannt gewesen.
Der Attentäter Amri, der den Anschlag mit einem Vertreter der Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) koordiniert hatte, war zunächst unerkannt entkommen und vier Tage später auf seiner Flucht bei einer Polizeikontrolle in Mailand erschossen worden. In Berlin wurde um zwölf Tote getrauert. Es gab mehr als 60 Verletzte.
Akten manipuliert
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte in der monatelangen Debatte über das Versagen von Behörden des Bundes und der Länder wiederholt erklärt, der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt hätte verhindert werden können. In Berlin befasst sich im Auftrag des Senats der Sonderermittler Bruno Jost mit dem Fall. Ferner setzte das Berliner Abgeordnetenhaus einen eigenen Untersuchungsausschuss ein.
Jost fand im Frühjahr heraus, dass im Berliner Landeskriminalamt im Nachgang des Anschlags Akten manipuliert wurden. Damit sollte offenbar vertuscht werden, dass Amri Wochen vor dem Anschlag auch wegen Drogenhandels hätte festgenommen werden können.
SC/jj (afp, rbb, MP-online)