Martin Roth: Brexit ist eine "persönliche Niederlage"
24. Juni 2016DW: Herr Roth, schockt Sie das Brexit-Votum der Briten?
Jetzt vielleicht nicht mehr so, weil ich schon seit Wochen geschockt durch die Gegend gehe. Insofern habe ich mich schon langsam an diesen Zustand gewöhnt. Die Sache ist nur: Wenn es evident wird, ist es umso schlimmer.
Ich empfinde dieses Ergebnis als persönliche Niederlage. Das ist wie, wenn Sie sich von Ihrer Partnerin trennen: Solange der Trennungsvorgang anhält, können Sie es nicht richtig glauben. Aber wenn es dann passiert, wacht man erst richtig auf. Und so fühle ich mich.
Befürchtet hatten Sie diesen Ausgang, aber auch damit gerechnet?
Was ist der Unterschied? Schlimm fand ich vor allem die "war rhetorik" ("Kriegsrethorik") in der Brexit-Debatte, die war so unenglisch aggressiv. Wo sind solche Worte wie Toleranz, Solidarität, Nächstenliebe? Und ich bin wirklich kein Träumer. Das hat einfach mit guter Kinderstube zu tun, mit Erziehung, mit Idealen, die uns alle verbinden. Wo sind die? Das gilt nicht nur für England, das ist in Frankreich mit Le Pen, in Deutschland mit AfD nicht anders. Hier kommt auf einmal eine "me first-Mentalität" ("Ich-zuerst-Mentalität") daher, die ist schon brutal.
Dass man fragt, wie gehen wir mit Brüssel um, dafür habe ich Verständnis. Aber dass man damit gleich alles zerschlagen muss, um weiter zu machen, das ist irre. Das zerschlägt die Zukunft unserer Kinder. Das ist das Traurige. Vor allem die Älteren haben für den Brexit gestimmt, die Jüngeren für den Verbleib in der EU. Das heißt doch: Die Älteren haben den Jungen die Zukunft geraubt.
Welcher Schaden entsteht für die Kultur?
Ich weiß es wirklich nicht. Lassen Sie uns darüber jede Woche sprechen. Auf nationaler Ebene werden wir uns daran gewöhnen müssen, dass keine Europa-Gelder mehr kommen. Vor allem für die Forschung wird das heftig werden. Ich fühle mich eher als ideologisch Betroffener denn als wirtschaftlich Betroffener. Jetzt steht die Scheidungsphase bevor. Das wird scheußlich.
Wie kann die Kultur reagieren – in ganz Europa?
Ich mag die Frage nicht. Künstler sind keine Clowns, die man dazuholt, um mal den Laden aufzumischen und den Politikern zu sagen: 'So oder so könnt Ihr auch denken.' Schuster bleib bei Deinen Leisten…
Viele Künstler hatten vor dem Brexit schlimmste Befürchtungen...
Die Kultur kann da nicht viel verändern, sie kann es jetzt nicht richten. Die Künstler werden sich aus allem raushalten. Sie gehen in die innere Emigration oder versuchen langfristig wieder etwas aufzubauen. Aber es ist nicht so, dass man von der Kunst oder den Künstlern viel erwarten kann, als direkte Reaktion. Ich würde mir wünschen, dass es anders wäre.
Zum andern: Am Tag danach weiß niemand wirklich, was der Brexit konkret bedeutet - ob nun irgendwelche Zölle oder neue Visaregelungen kommen. Unsere internationalen Netzwerke werden nicht zusammenbrechen. Die Frage ist nur, vor welchem Hintergrund. Bisher sind wir davon ausgegangen, dass wir näher zusammenrücken und eine gemeinsame Plattform bauen. Jetzt ist diese Plattform zerschlagen.
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Martin Roth, Jahrgang 1955, zählt zu den wichtigsten deutschen Museumschefs. Seit Herbst 2011 leitet er das Victoria & Albert Museum in London. Er war der erste Deutsche an der Spitze eines britischen Topmuseums. Im nächsten Jahr übernimmt er die Präsidentschaft des deutschen Instituts für Auslandsbeziehungen.
Das Gespräch mit Martin Roth führte Stefan Dege