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Tillmans vermisst Aufschrei der Kultur

Stefan Dege14. Juni 2016

Der in London lebende Fotograf Wolfgang Tillmans ist Deutschlands einziger Turner-Preisträger. Mit einer Plakatserie warnte er die Briten vor einem EU-Ausstieg. Jetzt legt er nach, in einem exklusiven DW-Interview.

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Eine Frau passiert die Plakatserie von Wolfgang Tillmans. Foto: Getty Images/J. Spicer
Bild: Getty Images/J. Spicer

DW: Herr Tillmans, Sie machen sich für einen Verbleib Großbritanniens in der EU stark – warum?

Wolfgang Tillmans: Der Brexit betrifft nicht nur 63 Millionen Briten. Es geht um eine Stimmung, die weltweit um sich greift - eine diffuse Unzufriedenheit, eine Lust an Störung und Zerstörung. Sie richtet sich gegen Institutionen, die unsere Nachkriegswelt geprägt und gestützt haben. Es geht um die UNO, die NATO. Wissen Sie zum Beispiel, wie Donald Trump über die NATO spricht? Für mich gehört das alles zusammen.

Wenn diese Abstimmung schiefläuft, dann könnte das einen Dominoeffekt auslösen. Damit würde den Feinden von Institutionen, die für Mäßigung, Verhandlungen und das Gegenteil von Schwarz-Weiß-Denken stehen, ein Sieg gereicht. Eine geschwächte EU wäre ein Fest für Russland. Eine geschwächte EU wäre ein Fest für die Rechtsaußenkräfte innerhalb der EU. Insofern sehe ich das Referendum als epochales Ereignis, auch weil es so ein großes und wichtiges Land betrifft. Das ist kein kleines Schweizer Referendum, wie es sie fünf mal im Jahr gibt.

Porträt des deutschen Fotografen Wolfgang Tillmans. Foto: Caroline Seidel/dpa
Der Fotograf Wolfgang Tillmans lebt in LondonBild: picture-alliance/dpa/C. Seidel

Auch bewegt es mich ganz persönlich: Durch meine Vita bin ich stark mit Großbritannien verbunden. Die meiste Zeit meines Erwachsenenlebens habe ich dort verbracht, seit 1990 wohne ich da. Ich sehe mich als Produkt der Nachkriegsgeschichte, von Versöhnung und Austausch.

Nennen Sie uns bitte drei Gründe, warum eine EU besser ist, als keine EU.

Die internationalen Telefongebühren wären nie gesenkt worden. Alle 28 Länder könnten nicht einzeln Druck auf Telefongiganten ausüben. Vor zehn Jahren hat ein Telefonat von Paris nach London zwei Pfund pro Minute gekostet, heute nur noch ein Bruchteil davon. Das Bild versteht jeder. Man muss es auf alle Herausforderungen dieser Welt münzen. Die Wirtschaft schafft Fakten: Google und Silicon Valley, die bestimmen unsere Wirklichkeit. Die EU und die US-Kartellbehörden sind die einzigen Körperschaften, die es überhaupt mit denen aufnehmen können.

Drei Gründe für Europa

Zweiter Grund: Die Menschenrechte. Die EU verteidigt die Menschenrechte durch Handelsabkommen. Immer wenn die EU Handelsabkommen schließt, geht es nicht nur um Geld, sondern auch um Regeln – für Arbeitnehmerrechte, Arbeits- und Sicherheitsstandards, Umweltstandards. Wenn es die EU nicht gäbe, würden China und andere Länder die Regeln diktieren.

Und der dritte Grund: Dank der EU gibt es weniger Kriege in Europa. Wenn 28 Länder miteinander verbandelt sind, müssen sie sich an einen Tisch setzen und miteinander reden, ohne gleich das Gewehr in die Hand zu nehmen. Schauen Sie nur in die Ukraine…

Die Feinde der Freiheit, schaden die auch der Kultur in Großbritannien?

Das Referendum in Großbritannien verschärft extrem die Töne. Auch in Deutschland hat eine Million Flüchtlinge den Debattenton massiv verschärft. Ganz viel Gift ist in die Umlaufbahn geraten, ein spaltendes Gift. Ich kann nur hoffen, dass wir eine starke Leber haben, die dieses Gift wieder herauswäscht (lacht).

Als Künstler beziehen Sie klar Position. Sollten sich nicht noch mehr Kulturschaffende in politische Fragen einmischen?

Ja, das wäre toll. Aber ich kenne auch keine Anti-Brexit-Initiative von Hirnchirurgen, Neurochirurgen oder Neurobiologen, auch keine Initiative von britischen Physikern. Ich bin etwas entsetzt, dass so kurz vor dem EU-Referendum nicht ein Aufschrei durch die Kultur geht und die Leute sagen: 'Das ist existentiell, das wird mein Leben verändern!' Dass da nichts kommt, wundert mich schon sehr.

Foto von Wolfgang Tillman "Market I" (2012). Quelle: http://www.kunsthallezurich.ch/_tillmans/_index_bilder.htm
Wolfgang Tillmans Fotoarbeit "Market I" (2012)Bild: Wolfgang Tillmans

Andererseits ist es nicht jedermanns Sache, sich plötzlich in einer anderen Form, einem anderen Medium zu äußern. Da bräuchte es eigentlich Führung, eine Kampagne, Vorbilder, Worte, Werbemittel. Und das hat bis jetzt nicht so toll funktioniert.

Aber es ist ein Phänomen, dass die EU ihre Erfolge ihren 500 Millionen Bewohnern kaum vermittelt. Die EU schämt sich, in Erscheinung zu treten. Das ist wie bei den Eltern eines verwöhnten Teenagers, der auf seine ungeliebten Eltern draufhaut. Wir sind jetzt an dem Punkt, an dem die Eltern nicht länger geschlagen werden können. Die zerbrechen.

Geben Sie Ihren Turner-Prize zurück, wenn der Brexit kommt?

(lacht) Nein, das hieße ja, den Handschuh der Spaltung anziehen. Wer den Schatz erhalten will, darf nicht einsteigen auf diesen Spaltungsdialog. In unserer Zeit wirft ständig jemand einen Fehdehandschuhe in den Ring - wie jetzt in Orlando (wo ein Massaker in einem Schwulen-Club in den USA Tote gefordert hat, Anm. d.R.). Und wenn man diesen Handschuh aufnimmt, tut man genau das, was die Aggressoren wollen.

Eskalation?

Genau, Eskalation!

Wolfgang Tillmans, Jahrgang 1968, ist ein deutscher Fotograf und Künstler. Er lebt und arbeitet in London und Berlin. Im Jahr 2000 wurde ihm als erstem Fotografen und Nichtengländer der renommierte Turner Prize verliehen.

Mit Wolfgang Tillmans sprach Stefan Dege