Marokko - Der lange Weg nach Hause
29. Mai 2020"Hier sind es 40 Grad. Ich muss mir mal ein schattigeres Plätzchen suchen“. Seit Mitte März leben Simon und Anne-Silja mit ihren beiden Söhnen sechs und zwölf Jahre alt, im Palmenhain von Tafraoute, eine Kleinstadt im Südosten von Marokko. Dort parkt ihr Reisemobil. Seit einigen Tagen sind sie die einzigen. Bis letzten Dienstag standen im spärlichen Schatten der Palmen noch zehn andere Wohnmobile. Sie haben alle die von der Deutschen Botschaft organisierten Fähren nach Genua oder Malaga genommen. Simon und Anne-Silja blieben zurück.
"Wir haben es nicht eilig, wir warten vermutlich, bis die Grenzen wieder öffnen und wir mit einer normalen Fähre übersetzen können. Die Tickets für die von der Botschaft gecharterten Fähren sind übertrieben teuer. Wir haben für die Hinreise 100 Euro bezahlt. Ich habe jetzt von Preisen bis zu 1500 Euro gehört.“ Die Ticketpreise variieren in der Tat, je nachdem, ob es der Botschaft gelingt, eine Fähre zu chartern, die leer nach Marokko fährt oder auf dem Hinweg Ware transportiert. Simon und Anne-Silja warten geduldig auf die Fähre, die sie sich leisten können. Der Familie geht es gut, die Einheimischen versorgen sie mit Wasser, Schulheften, Brot oder Couscous und Tajine, sogar einen Pizzaservice gibt es. "Wir können echt nicht klagen“, sagt Simon.
Vom Urlauber zum unfreiwilligen Dauercamper
Im Winter ist Marokko ein beliebtes Reiseziel für europäische Urlauber. Es ist die Hochsaison für Camper und Wohnmobilisten. Besonders Deutsche verbringen die kalte Jahreszeit gerne unter der marokkanischen Sonne. In nur 40 Minuten gelangt man mit der Fähre von Algeciras auf dem spanischen Festland in die Exklave Ceuta auf der anderen Seite der Straße von Gibraltar. Das sonnige Marokko wurde wegen Corona zur Falle.
Am 20. März rief Marokko den Ausnahmezustand aus, quasi von einem Tag auf den anderen waren die Grenzen dicht. Die Empfehlung der Botschaft, das Auto oder Wohnmobil stehenzulassen und zurückzufliegen, kam für viele nicht in Frage. Und so hängen noch immer geschätzte 4000 Camper aus ganz Europa in Marokko fest.
Wer jetzt noch da ist, hat sich wie Simon und Anne-Silja auf einem Parkplatz eingerichtet und lebt im Modus des Ausnahmezustands. Das bedeutet Ausgangssperre. Wer die zwei Kilometer ins Dorf laufen muss wie Simon, braucht eine Genehmigung vom Ortsvorsteher. Überlandreisen sind verboten. Niemand kommt von A nach B. Am 19. Mai wurde der Ausnahmezustand bis zum 10. Juni verlängert.
Ein Schiff wird kommen
Die Deutsche Botschaft in Rabat hilft, wo sie kann. Fast 5000 gestrandete Touristen hat das Auswärtige Amt seit Mitte März aus Marokko zurück nach Deutschland gebracht. Auch nach dem offiziellen Ende der größten Rückholaktion in der Geschichte des Auswärtigen Amts Ende April gehen die Bemühungen weiter. In Marokko legten am 19. und 20. Mai zwei Schiffe Richtung Europa ab mit insgesamt 110 Campingfahrzeugen an Bord, diese Woche gingen vier Flüge raus.
"Eine belastbare Einschätzung zur Gesamtzahl der noch in Marokko verbliebenen Deutschen können wir nicht treffen, da keine Registrierungspflicht für deutsche Staatsangehörige im Ausland besteht. Viele der jetzt Rückreisewilligen hatten sich anfangs gegen eine Heimkehr entschieden; andere sind mit einem Fahrzeug vor Ort und wollen dieses nicht zurücklassen", so das Auswärtige Amt gegenüber der DW. Auch für die letzten Urlauber ist die Botschaft bemüht, eine Lösung finden. Das Auswärtige Amt geht von einer "mittleren bis hohen dreistelligen Zahl" aus.
Marokko steht am Abgrund
Für Marokko ist Corona ein Desaster, der wirtschaftliche Schaden immens. Geschätzte 500.000 Menschen sind im Tourismussektor beschäftigt. Kaum noch jemand verdient jetzt Geld. Von den nahezu 4000 zertifizierten Unterkünften, den Hotels, Campingplätzen und Jugendherbergen im Land hatten Anfang Mai nur 520 geöffnet. Der Tourismus ist der zweitstärkste Wirtschaftsfaktor Marokkos und macht elf Prozent des Bruttosozialprodukts aus. Insgesamt kommen elf Millionen Gäste jedes Jahr nach Marokko, 80 Prozent davon Europäer.
Muriel Brunswig liebt Marokko und sie macht sich große Sorgen. Die Freiburgerin bietet seit über 20 JahrenReisen in Marokko an, hat etliche Reiseführer über das Land geschrieben. "Zum Glück gibt es ein staatliches Hilfsprogramm, doch letzten Endes erreicht es dennoch nicht für alle und auf Dauer reicht auch die Hilfe nicht zum Leben. In Marokko leben die Allermeisten von der Hand in den Mund. Ich kann mir zwar im Moment noch nicht vorstellen, wie man dort die Hygienemaßnahmen im Tourismus umsetzen kann, aber klar ist, wenn es nicht bald weiter geht, werden viele in Marokko nicht überleben können."
Brunswig hofft, dass sich ein Weg findet, dass alle das Ganze mit einem blauen Auge überstehen. Sie trägt ihren Teil dazu bei und fordert das Geld, das bereits bei ihren Partnern in Marokko war, nicht zurück. "Denen geht es deutlich schlechter als mir, denn im Vergleich zu mir haben sie weniger Rücklagen und größere Familien zu ernähren." Alle sehnen den Moment herbei, wo wieder Touristen ins Land dürfen.
Alle wollen nach Hause
Noch geht der Reisestrom in die andere Richtung, nach Europa. Maren und Ralf haben es geschafft. Sie sind wieder in Europa. Mit ihrem "Opa Theo" - so nennen sie liebevoll ihren umgebauten Mercedes Benz Kurzhauber Bj. 66 - haben sie am 21. Mai mit einer von der Botschaft gecharterten Fähre Marokko verlassen und tuckern nun langsam Richtung Heimat, nach Göppingen. Zügig durch die Transitländer fahren ist eine der Auflagen für alle, die jetzt mit dem Wohnmobil auf dem Weg nach Hause sind. "Opa Theo" bemüht sich, er schafft 78 Kilometer die Stunde.
Am 2. Januar waren Maren und Ralf in Marokko eingereist, drei Monate wollten sie das Land bereisen. Fast doppelt so lange waren sie am Ende dort. Maren und Ralf kriegten mit, wie eine Info die nächste jagte und bald keiner mehr wusste, was nun Sache war. Besonders am Anfang des Lockdowns reisten viele Hals über Kopf ab, Richtung Fähre nach Ceuta, der spanischen Enklave in Marokko. Nur um dort festzustellen, dass sie nicht weiterkamen.
Gut vernetzt sein, ist das halbe Ticket
Maren ist eine Frau, die zupackt, gerne organisiert und ihr Handy selten aus der Hand legt. Also gründete sie eine Whatsapp-Gruppe für gestrandete Wohnmobilisten in Marokko, sammelte Infos, verbreitete sie weiter. Wer ausreisen will, muss sich aktiv selber informieren, sich bei "Elefand" registrieren, der Elektronischen Erfassung der Deutschen im Ausland des Auswärtigen Amts, die Facebook-Seite der Deutschen Botschaft in Rabat regelmäßig scannen - und falsche von richtigen Informationen trennen. Was ein echtes Problem zu sein scheint. Denn nicht wenige Wohnmobilisten haben Geld für Schiffstransfers ausgegeben, die dann gar nicht stattfanden.
In Windeseile wurde Maren zur Schnittstelle zwischen der Deutschen Botschaft und im Land verstreuten Wohnmobilisten, stellte sicher, dass sie zeitnah informiert wurden. "Ein bisschen Vorlauf braucht man schon, wenn man fast 1000 Kilometer mit einem Wohnmobil nach Tanger zur Fähre fahren soll", seufzt Maren.
Sie haben es an Bord der "Balearia" geschafft - und schnell noch dafür gesorgt, dass noch ein paar Belgier mit aufs Schiff kamen. "Wir werden zurückkommen", sagt Ralf. "Die Menschen in Marokko sind so freundlich. Es ist ein wunderbares Land. Wir haben viel zu wenig gesehen."
Auch Simon und Anne-Silja werden in den nächsten Tagen aufbrechen, Tafraoute verlassen, der Hitze entfliehen. Eine Überlandreisegenehmigung haben sie inzwischen bekommen und dürfen nach Norden reisen, immer Richtung Tanger, wo die Fähren nach Spanien ablegen. Bis dorthin sind es etwas über 900 Kilometer. Eine letzte Gelegenheit, wenigsten ein kleines bisschen von Marokko zu sehen, bevor auch sie eine Fähre wieder nach Europa bringt.