Rechtsstaatliche Mängel in Polen und Ungarn
5. Juli 2023Die EU-Kommissare Vera Jourova und Didier Reynders gaben sich Mühe, Polen und Ungarn bei der Vorstellung des jährlichen Berichts zur Rechtsstaatlichkeit nicht allzu oft namentlich zu nennen. Die für "Werte, Transparenz und Justiz" zuständigen EU-Kommissare sprachen lieber allgemein von Mitgliedsstaaten, die Sorgen bereiteten.
Dazu gehören laut Reynders auch andere Staaten, die wie zum Beispiel Spanien mit Reformen im Justizwesen in Verzug seien. Deutschland wird von der EU-Kommission für die vergleichsweise niedrige Bezahlung seiner Richterinnen und Richter kritisiert. Positive Beispiele seien dagegen Luxemburg, Österreichund Kroatien. Sie hätten die Empfehlungen der EU-Kommission zur Verbesserung der Unabhängigkeit von Richterinnen und Richtern umgesetzt und gute Fortschritte erzielt.
Wie um den Regierungen Ungarns und Polens jeglichen Anlass zu verwehren, sich über eine ungerechte Behandlung aus Brüssel zu echauffieren, hob der EU-Kommissar hervor, dass alle 27 EU-Mitgliedsstaaten geprüft werden, und zwar alle nach den gleichen Kriterien. Gegen beide Staaten laufen wegen Verstößen gegen die rechtsstaatliche Ordnung Verfahren nach Artikel 7 der Europäischen Verträge, die theoretisch zu einer Suspendierung der Mitgliedschaft führen könnten.
Ihren Bericht zum Stand der Rechtsstaatlichkeit in der Gemeinschaft legen die Experten der EU-Kommission seit 2020 jedes Jahr vor. Und auch nach der Lektüre des vierten Reports ist klar: Polen ist der renitenteste Problemfall, dicht gefolgt von Ungarn.
Geht der Dauerstreit in die nächste Runde?
Erst im Juni hatte der Europäische Gerichtshof, das oberste Gericht der EU, geurteilt, dass die polnische Justizreform von 2019 rechtswidrig und aufzuheben sei. Die Empfehlung etwa, das Amt des Generalstaatsanwalts vom Amt des Justizministers zu trennen, wurde nicht befolgt. Ebenso wenig werden zu Unrecht entlassende Richter wieder in ihre Ämter eingesetzt. Und so zieht sich der Tenor dieses Urteils auch durch den Länderbericht der EU-Kommission: "Ernste Sorgen in Bezug auf die Unabhängigkeit der polnischen Justiz bleiben bestehen."
Das Oberste Gericht in Polen erkennt Urteile des Europäischen Gerichtshof teilweise nicht an, obwohl es nach den EU-Verträgen dazu verpflichtet wäre. Polnische Richter, die sich auf EU-Recht berufen, müssen dort Disziplinarverfahren fürchten. Ein klarer Verstoß gegen die EU-Verträge, meint die EU-Kommission und hat deshalb einige Verfahren gegen Polen angestrengt. Wegen Nichtbeachtung der Urteile des EuGH aus Luxemburg musste Polen seit 2021 bereits 360 Millionen Euro Strafe zahlen. Das Geld, das Polen eigentlich aus dem EU-Haushalt zustünde, wird von der EU-Kommission einbehalten.
Wann ändert sich etwas in Polen?
Die EU-Beamten erwarten im Moment von Polen kein Einlenken, denn die nationalkonservative PiS-Regierung befindet sich im Wahlkampfmodus vor den Parlamentswahlen im September und bearbeitet Brüssel als Feindbild. Zugeständnisse nicht möglich. Der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro erklärte gar im Juni, der Europäische Gerichtshof maße sich Kompetenzen an, die er nicht habe. "Das Urteil wurde nicht von Richtern geschrieben, sondern von Politikern", wetterte Ziobro, der Vorsitzender der rechtsextremen Partei "Solidarna Polska" ist. Im Stillen hoffen die Fachleute in der EU-Kommission wohl auf einen Regierungswechsel in Warschau. Erst dann sei mit ernsthaften Fortschritten rechnen, hieß es aus der EU-Zentrale.
Der Rechtsstaatsbericht kritisiert auch ein neues Gesetz in Polen, das es einer Verwaltungskommission erlaubt, unliebsame Politikerinnen oder Politiker von Wahlämtern auszuschließen. Die EU-Kommission hat im Juni bereits ein Verfahren gegen dieses Gesetz eingeleitet, das darauf abzielen könnte, den Oppositionsführer in Polen, Christdemokrat Donald Tusk, im laufenden Wahlkampf mundtot zu machen. Der polnische Europaminister Szymon Szynkowski vel Sek hat die Vorwürfe der EU-Kommission zurückgewiesen.
Der Rechtsstaatlichkeits-Bericht gibt der polnischen Regierung in diesem Jahr im Grunde die gleichen Hausaufgaben auf wie im letzten Jahr. Neben der Justiz ist auch der Mediensektor betroffen, in dem Lizenzvergaben für Medienunternehmen undurchsichtig und der öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu stark von der Regierung abhängig sei.
Unbeeindruckt zeigt sich die polnische Regierung bislang von den finanziellen Folgen ihrer mangelnden Kooperationsbereitschaft. Die EU-Kommission hält nachwievor Zahlungen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds in Höhe von insgesamt 35 Milliarden Euro zurück. Diese sollen erst ausgezahlt werden, wenn Polen eine Reihe von Bedingungen erfüllt, darunter die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Justiz.
Auch Ungarn bekommt weniger Gelder
Die Entwicklung in Ungarn schätzt die EU-Kommission etwas positiver ein als in Polen. Das ungarische Parlament hat gemäß der Empfehlungen der Kommission Gesetze erlassen, um das Justizwesen an europäische Standards anzupassen. "Die neuen Regeln für das Oberste Gericht werden zu Transparenz beitragen. Die Möglichkeit, politischen Einfluss auf das Gericht zu nehmen, wird verringert", lobt die EU-Kommission. Dagegen sehe es bei der Korruptionsbekämpfung und der Unabhängigkeit der Medien in Ungarn düster aus. Die EU-Kommission verlangt, dass in schwerwiegenden Korruptionsfällen endlich umfassend verfolgt, ermittelt und verurteilt wird.
Solange prominente Täterinnen und Täter aus dem Umfeld der politischen Führung straffrei ausgehen, bleiben die Sanktionen der EU gegen Ungarn in Kraft. Das Land erhält wegen der grassierenden Korruption, die auch EU-Fördermittel betroffen hat, derzeit nur rund 55 Prozent der zugesagten Mittel aus dem EU-Haushalt. Außerdem werden Mittel aus dem Corona-Aufbaufonds nicht ausgezahlt. Ungarn entgehen so im Moment rund 12 Milliarden Euro. Um seinerseits Druck auf die EU-Kommission auszuüben, blockiert der ungarische Regierungschef Viktor Orban EU-Beschlüsse in anderen Bereichen. In der EU-Kommission spricht man hinter vorgehaltener Hand von Erpressungsversuchen.