"Die KP hält Menschen gut gefüttert im Käfig"
18. Oktober 2017Ma Jian wurde 1953 in der Hafenstadt Qingdao in der Provinz Shandong geboren. Er lebte als Schriftsteller, Fotograf und Maler in Peking, später in Hongkong und seit 1999 im Londoner Exil. Mit seinem preisgekrönten literarischen Reisebericht gab Ma der chinesischen "Lost Generation" eine Stimme. Sein bisher bekanntestes Werk ist der 900-Seiten Roman "Peking Koma" (2009). Für seinen Roman "Die dunkle Straße" (2015) über die brutale Durchsetzung der Ein-Kind-Politik recherchierte er monatelang im chinesischen Hinterland. Aufgrund seiner Forderungen nach freier Meinungsäußerung und der Entlassung politischer Gefangener sind Mas Bücher seit dreißig Jahren in China verboten. Sie wurden jedoch in viele Sprachen übersetzt und erschienen in Hongkong und Taiwan auch auf Chinesisch. Ma Jian ist 2017 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD.
DW: Was erwarten Sie zukünftig von der chinesischen Politik?
Ma Jian: Nach der Ära Jiang Zemin und der Hu Jintaos haben wir es jetzt mit der von Xi Jinping zu tun. Die ältere Generation der Revolutionäre hatte immerhin noch eine Beziehung zum Volk. Sie glaubten noch daran, dass die chinesische KP für das Volk entstanden wäre. Sie hatten natürlich jede Menge Privilegien, und meiner Ansicht nach war das scheinheilig, aber sie gaben vor, "das Volk zu achten", wie Premierminister Wen Jiabao es noch ausdrückte. Xi Jinping gehört zur "zweiten roten Generation". Seine kommunistische Erfahrung beschränkt sich in seiner Jugend während der Kulturrevolution auf die Begegnung mit den Roten Garden, die Position als Parteizellen-Chef seiner Arbeitsgruppe von aufs Land verschickten Jugendlichen, und darauf, dass sein Vater zum inneren Zirkel der KP gehörte. Seine erste wichtigere Funktion war die als Sekretär verschiedener Parteikader. An deren Seite ist er allmählich immer mächtiger geworden.
Wie äußert sich das konkret?
Sein Macht- und Herrschaftsbewusstsein ist extrem ausgeprägt, bis dahin, dass er das Gefühl hat, der Staat gehöre ihm. Er hält sich für den allein herrschenden Führer. Die Idee, dass die Menschen jemanden anderen wählen könnten, ist ihm vollkommen fremd. Nachdem die "zweite rote Generation" an der Macht ist, muss man schon nach Nordkorea blicken, um Vergleichbares zu finden, für das, was sie anrichten kann. In dieser Atmosphäre kann kein anderes politisches Bewusstsein aufkommen, auch kein neues Klassenbewusstsein. China wird sich zukünftig zunehmend gegen den Westen positionieren und sich politisch und wirtschaftlich immer weiter von gemeinsamen Werten entfernen.
Viele Chinesen blicken heute auf die 1980er Jahre zurück. Was interessiert Sie selbst und andere heute noch an diesem Jahrzehnt?
Das war die Zeit des Aufbruchs. Die Achtzigerjahre waren für viele junge Menschen die Ära, in der sie plötzlich eine Ahnung von Freiheit bekamen. Dass sie zum Beispiel malen, Jeans tragen und die Haare wachsen lassen konnten. Und vor allem: dass man darüber nachdenken konnten, wer man selbst war. Dieses unter so großem Druck plötzlich aufbrechende individuelle Bewusstsein brachte eine starke Forderung nach Freiheit mit sich. Wir sahen uns damals der Kommunistischen Partei und einer postmaoistischen Gesellschaft gegenüber, es brauchte einen großen Anreiz, um sie herauszufordern. Wir fingen an, westliche Bücher zu lesen, an der Politik des eigenen Staates zu zweifeln, für mich und viele meiner Generation war das der Anfang eines eigenen Lebenswegs.
Gleichzeitig entdeckten wir, dass China als Staat verrottet war. Nachdem man einmal Licht ins Dunkel gelassen hatte, war es unmöglich geworden, China wieder abzuriegeln. Es musste sich Schritt für Schritt öffnen. Damals begriffen wir: Individuelles Denken und individuelle Freiheit müssen aufgebaut werden, brauchten Aufklärung, man muss sie sich erobern.
Was ist der größte Unterschied zu heute?
Anfang der Achtzigerjahre suchten wir alle die Freiheit. Wir glaubten, je weiter wir Peking hinter uns ließen, umso besser. Wenn man nach Tibet reiste, hielt man das schon für eine Reise ans Ende der Welt. Aber es gab auch schon ein paar Leute, die ins Ausland gingen, nach Deutschland, Großbritannien oder in die USA reisten. Dass es diese Möglichkeit gab, China zu verlassen und ganz weit weg zu gehen, war für uns damals eine echte Erkenntnis.
Außerdem: Ende der Achtziger begriffen viele, dass das chinesische politische System geändert werden musste. Denn die Forderung nach Öffnung und Reformen war mit der Zeit immer stärker geworden. So kam es 1989 zu den Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Das war eine großartige Sache, diese so starke Bewegung. Innerhalb eines Monats hatten die Menschen verstanden, dass sie aufstehen konnten und nicht länger geduckt leben mussten. Auch wenn die Bewegung schon nach sehr kurzer Zeit niedergeschlagen wurde, hat das auf lange Sicht doch den Wunsch der Chinesen nach individueller Freiheit, Unabhängigkeit und die Hoffnung auf Demokratie sehr bestärkt. Die Panzer auf dem Tian'anmen haben dem zunächst ein grausames Ende bereitet, aber der Hoffnungssamen der Demokratie hatte in der chinesischen Gesellschaft zu keimen begonnen.
Was veränderte sich sonst noch?
Wir können auch beobachten, dass sich die KP, nachdem sie die Demokratiebewegung niedergeschlagen hatte, verändern musste, um an der Macht zu bleiben: Sie öffnete sich wirtschaftlich. Diese Öffnung führte dazu, dass die Chinesen immer höhere materielle Ansprüche stellten und einen besseren Lebensstandard verlangten. Das war eine außerordentlich starke Kraft, die innerhalb von Jahrzehnten sehr schnell dazu geführt hat, dass China zu einem wirtschaftlich führenden Land wurde. Aber so ein Land hat ein sehr großes Problem: Politisch hat die chinesische KP sich nie reformiert. Reformen und Öffnung auf diesem Gebiet sind gleich Null. Im Gegenteil wird die Kontrolle immer enger. Anstatt sich mit der Zeit zu öffnen, wird die KP immer konservativer. Die politische und die wirtschaftliche Öffnung müssten jedoch miteinander einhergehen.
Deshalb sehen wir jetzt: China hat ein Problem, das nach 1989 nie gelöst wurde. Nachdem die Panzer das politische Bewusstsein und die Moral der Menschen niedergewalzt hatten, ist das jetzige China, auch wenn es reicher ist, trauriger und beängstigender als früher, es besitzt absolut keine Humanität. Die KP hält die Menschen gut gefüttert in einem hübschen Käfig. Aber sie gibt ihnen keine Freiheit, lässt ihnen nicht den geringsten Raum, ihre Individualität und ihr eigenes Denken zu entfalten.
Hat die materielle Kultur des Westens China stark beeinflusst?
Wir dachten immer, dass der Westen durch friedliche Umgestaltung die chinesische Gesellschaft ändern würde. Aber jetzt sehen wir, dass diese Umgestaltung durch den Kapitalismus nicht geglückt ist. Nach dem Ende des Kalten Kriegs wurde kein neues Wertesystem etabliert. Die KP benutzte die Bandagen des Kapitalismus, um ihre Wunden zu bedecken. Aber der Westen missachtete aus wirtschaftlichen Gründen den Schaden, den die KP anrichtete, um der Globalisierung willen, und um die weltanschaulichen Werte des Kapitalismus und des Individualismus besser vor sich hertragen zu können. Man ließ die KP im Gegenteil immer bedeutender werden.
Sie sind in den frühen Achtzigerjahren drei Jahre lang in China unterwegs gewesen. Später haben Sie in Ihrem Reisebuch "Red Dust" über die Gesellschaft von damals berichtet. Für Ihr letztes Buch "Die dunkle Straße" haben Sie einen Teil der Reise noch einmal unternommen. Was hat sich verändert?
Die Menschen haben heute kein politisches Bewusstsein mehr. Wenn sie heute über die USA und Europa sprechen, dann immer im Vergleich zu China, das sie überlegen sehen. "Amerika und Europa sind nichts Besonderes, denen geht es doch schlechter als uns", das glauben sie und wiederholen unentwegt Dinge wie: "Die Umweltbedingungen sind dort noch übler als bei uns." Egal, worum es geht, sie denken stets, dass der Westen schlechter dran sei als China.
In "Die dunkle Straße" geht es vor allem auch um die Ein-Kind-Politik Chinas. Die ist inzwischen weitgehend abgeschafft. Sind Sie zufrieden?
Es ging mir vor allem darum, die Erinnerung an den Schaden und die Grausamkeiten, die diese Politik angerichtet hat, zu bewahren. Die Auswirkungen der strikten Geburtenkontrolle haben auch die menschlichen Werte auf Dauer beschädigt. Die Menschen denken heute, dass eine Familie mit nur einem Kind erstrebenswert wäre. Mehr Kinder zu haben, halten sie für zu anstrengend. Müttern wird keine Achtung mehr entgegengebracht. Ich dagegen glaube, wenn man die Familie schwächt, dann schwächt man auch den Staat. In China ist die Tradition der Familie zerschlagen worden, und das ist gefährlich. Denn jetzt werden die Kinder nicht mehr in der Familie erzogen, sondern vom Staat, und von ihm bekommen sie auch ihre Werte vermittelt.
Mit Ihnen, den Autoren Yang Lian und Zhou Qing, dem Künstler Ai Weiwei, der Journalistin Zhang Miao und anderen leben aktuell nicht wenige bekannte Chinesen in Berlin. Was macht die deutsche Hauptstadt für chinesische Intellektuelle so attraktiv?
Was mir zum Beispiel an Berlin, im Gegensatz zu London, wo ich langfristig lebe, besonders gefällt, ist, dass das Bewusstsein für Politik und das Gefühl für Geschichte hier wacher sind als an jedem anderen Ort, an dem ich bisher gelebt habe. Wenn man auf der Straße unterwegs ist, begegnen einem die bronzenen Stolpersteine, die an von den Nazis Verfolgte erinnern. Ich bleibe dann immer stehen, um sie zu berühren oder ein Foto zu machen. Außerdem begegnen einem überall in der Stadt die Zeugnisse der Ost-West-Geschichte, Erinnerungen an die Teilung der Stadt und Deutschlands.
Liu Xiaobo war Chinas brillantester Intellektueller. Was bedeutet sein Verlust für China?
Die Menschenrechte, Aufrichtigkeit und Freiheit spielen in China keine Rolle. Dem Namen Liu Xiaobos begegnet man in China nicht mehr. Selbst in Intellektuellenkreisen, selbst unter Autoren wird man nicht einen einzigen finden, der so unvorsichtig wäre, sein Mitgefühl auszusprechen, auszudrücken, wie er es bedauert, dass Liu gestorben ist. Berühmte Schriftsteller wie der Nobelpreisträger Mo Yan oder Yu Hua verlieren erst recht kein gutes oder tröstliches Wort zu Liu Xiaobo. In einer solchen Atmosphäre hat man nicht mehr die geringste Möglichkeit, die Gesellschaft zu ändern. Wenn die Intellektuellen, die Menschen, die eigentlich frei denken sollten, schon keinen Laut mehr von sich geben, dann zeigt sich, dass die ganze wechselseitige Beeinflussung, wie die Teilnahme chinesischer Verlage und Autoren an der Frankfurter Buchmesse oder bei Veranstaltungen wie der LitCologne, für China nichts gebracht hat.
Das Gespräch führte Sabine Peschel.