Lässt sich die zweite Corona-Impfdosis hinauszögern?
5. Januar 2021Eigentlich soll die zweite COVID-19-Impfung im Abstand von drei Wochen erfolgen. Angesichts des knappen Impfstoffs wird in Großbritannien die zweite Dosis herausgezögert, damit mehr Menschen frühzeitig eine erste Dosis erhalten können. Die britischen Behörden vertreten die Auffassung, dass eine solche Verzögerung auf bis zu zwölf Wochen die Wirksamkeit der Impfstoffe nicht beeinträchtigt.
Der britische Vorstoß sorgt auch auf dem europäischen Festland für lebhafte Diskussionen und die Experten-Meinungen gehen weit auseinander - was das Vertrauen in die neu entwickelten Impfstoffe nicht unbedingt vergrößert.
Klar ist nur: Eine zweite Impfung ist zwingend notwendig, denn sie löst wie eine Art Booster die nötige starke Immunantwort aus.
Festhalten an bekannter Datenlage?
Die seit dem Brexit nicht mehr für Großbritannien zuständige Europäische Arzneimittelagentur (EMA) sieht den Vorstoß skeptisch: Zwar sei eine Obergrenze für den zeitlichen Abstand zwischen den Dosen des Biontech/Pfizer-Impfstoffs nicht explizit definiert, der Nachweis der Wirksamkeit basiere aber auf einer Studie, bei der die Verabreichung der Dosen im Abstand von 19 bis 42 Tagen erfolgte, so die EMA. Eine Verabreichung etwa im Abstand von sechs Monaten stehe nicht im Einklang mit den Bestimmungen und erfordere eine Änderung der Zulassung sowie mehr klinische Daten.
Auch die Hersteller BionTech/Pfizer berufen sich auf die Daten der Phase-III-Studie, in der nur untersucht wurde, wie effektiv die Impfung nach zwei im Abstand von drei Wochen gegeben Dosen ist. Zwar sei ein gewisser Schutz teilweise schon zwölf Tage nach der ersten Impfung vorhanden, aber es gebe keine Daten über den Zeitraum von drei Wochen hinaus.
Auch der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), Professor Dr. Klaus Cichutek, will an der bisherigen Vorgehensweise festhalten, weil nur für sie entsprechende Wirksamkeits- und Sicherheitsdaten vorlägen.
Oder Flexibilisierung des Impfintervalls?
Eine verzögerte zweite Dosis halten Impfexperten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) dagegen bei der BioNTech-Pfizer-Vakzine für durchaus vertretbar. In Ausnahmefällen sei eine zeitliche Streckung der Impfstoffgabe um einige Wochen möglich, sagte der Vorsitzende der WHO-Expertengruppe für Immunisierungen (SAGE), Alejandro Cravioto vor Journalisten.
Thomas Mertens, der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institut, kann der britischen Idee ebenfalls etwas Positives abgewinnen: "Da der Abstand zwischen beiden Impfungen mit großer Wahrscheinlichkeit in weiten Grenzen variabel sein kann und der Schutz auch nach einer Impfung schon sehr gut ist, ist es durchaus überlegenswert, bei Impfstoffmangel zunächst bevorzugt die erste Impfung zu verabreichen".
In die gleiche Richtung argumentiert auch der Bonner Virologe Hendrik Streeck. Die Daten hätten gezeigt, dass bereits nach der ersten Impfung mehr als die Hälfte der Geimpften vor der schweren Erkrankung geschützt sei. Wenn man die zweite Impfung später gebe, könne man durch die ersten Chargen der Impfdosen eigentlich die Impfkapazitäten verdoppeln, so Streeck gegenüber dem Fernsehsender RTL.
Prof. Dr. Peter Kremsner, Direktor des Instituts für Tropenmedizin der Universität Tübingen sieht ebenfalls einen gewissen Spielraum. "Grundsätzlich ist der britische Ansatz sehr sinnvoll. Wie bei anderen Impfungen kann man die zweite Dosis wahrscheinlich gut auch nach zwei bis drei Monaten geben, da schon die erste Dosis scheinbar eine hohe Wirksamkeit erzielt. Wenn der Effekt der ersten Impfung mit der Zeit nicht schnell abnimmt, dann könnte die zweite Impfung auch noch später stattfinden, zum Beispiel erst nach sechs Monaten. Das wissen wir noch nicht. Bei anderen Impfstoffen wird das auch so gemacht."
Auch Leif Erik Sander, der Leiter der Forschungsgruppe Infektionsimmunologie und Impfstoffforschung an der Berliner Charité spricht sich laut "Science Media Center" für eine "Flexibilisierung des Impfintervalls" aus. Beim Impfstoff von BioNTech-Pfizer sei das Intervall von drei Wochen immunologisch eher als eine Untergrenze zu verstehen. Man habe etwas Spielraum, so Sander. Die zweite Impfung könne problemlos etwas verzögert werden, "ohne dass wesentliche Abstriche bei der Wirksamkeit zu erwarten sind". Das sei aber sicher nur eine vorübergehende Strategie. Und es sei wichtig, dass alle Geimpften eine zweite Impfung erhalten.
Sander wies darauf hin, dass beim Oxford-Impfstoff von AstraZeneca die zweite Impfung nach sechs Wochen erfolgte. "Daten von AstraZeneca/Oxford zeigen, dass ein verzögerter Booster sogar die Antikörperantwort verstärkt. Dieses Phänomen kennt man auch von anderen Studien, etwa von Ebola-Impfstoffen", sagt Sander gegenüber der Zeitung "Die Welt".
Politik muss entscheiden
Angesichts der wissenschaftlichen Vielstimmigkeit lässt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Möglichkeit einer verzögerten zweiten Impfung jetzt prüfen. Die Ständige Impfkommission (STIKO) des Robert-Koch-Instituts solle nach Sichtung entsprechender Daten dazu eine Empfehlung abgeben.