Lukács-Archiv in Budapest vor dem Aus
10. August 2020Nur eine kleine Steintafel erinnert heute noch an Georg Lukács (1885-1971), jenen Mann, der als einer der bedeutendsten marxistischen Philosophen des 20. Jahrhunderts gilt. Im fünften Stock des Wohnhauses am Belgradkai 2, unmittelbar am Budapester Donauufer gelegen, hat er von 1945 bis zu seinem Tod 1971 gelebt und gearbeitet. Nach seinem Tod entstand hier ein Archiv, das sein Lebenswerk bewahrte und aufarbeitete. Bis zuletzt gingen dort Philosophen und Literaten aus aller Welt ein und aus; noch 2017 war der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk zu Gast.
Miklós Mesterházi arbeitete dort 40 Jahre lang, bis er und die anderen Mitarbeiter des Archivs 2018 entlassen wurden. Über Nacht wurden die Schlösser ausgetauscht, der Großteil von Lukács' Nachlass in die Ungarische Akademie der Wissenschaften (MTA) abtransportiert. "Damit wurde eine Institution aufgegeben, auf die jede Stadt, jede wissenschaftliche Gemeinschaft stolz wäre", so Mesterházi im Gespräch mit der DW. Die Möglichkeit, das Werk eines solch bedeutenden Philosophen an dessen langjähriger Wirkungsstätte in Ungarn aufzuarbeiten, sei einzigartig gewesen, erklärt der 68-Jährige, der selbst Philosoph ist.
Schließung politisch motiviert?
Die Ungarische Akademie der Wissenschaften, der das Lukács-Archiv seit seiner Gründung unterstellt ist, erklärte die Schließung damit, dass die Räumlichkeiten des Archivs renovierungsbedürftig seien. Doch eine Renovierung ist bis heute nicht erfolgt. Dass nicht bauliche Mängel, sondern politische Gründe hinter der Schließung des Archivs stehen, ist für viele Kritiker offensichtlich. Seit Jahren war das Archiv als Vermächtnis eines marxistischen Philosophen der rechtsnationalen Regierung von Viktor Orbán ein Dorn im Auge. Für sie war Lukács ein "kommunistischer Mörder", weil er 1919 die Erschießung desertierter ungarischer Soldaten befohlen haben soll. Bereits 2017 hatte Orbáns Partei Fidesz, unterstützt von der rechtsradikalen Jobbik-Partei, ein Lukács-Denkmal entfernen lassen - trotz internationaler Proteste. Wenige Monate später folgte die Schließung des Archivs.
Keinerlei Aussicht auf Rückkehr des Archivs
Zusammen mit ehemaligen Mitarbeitern gründete Mesterházi die "Internationale Stiftung Lukács-Archiv" (LANA), die sich für die Rückkehr des Archivs in seine ursprünglichen Räumlichkeiten einsetzt. Nach langen Verhandlungen mit der Ungarischen Akademie der Wissenschaften scheint eine Rückkehr nun jedoch aussichtslos. "Heute wäre es absurd anzunehmen, dass das Lukács-Archiv wieder eingerichtet wird", sagt Mesterházi. Der Philosoph führt das vor allem auf den politischen Einfluss der Orbán-Regierung auf die Akademie zurück. Die Verhandlungen seien ein "Schauspiel" gewesen. Dem Premierminister und seinen Anhängern in der Akademie sei es nun gelungen, den "Schandfleck" Lukács-Archiv endgültig zu beseitigen, so Mesterházi. Doch aufgeben wollen er und die anderen Stiftungsmitglieder nicht. Die Lukács-Forschung soll auf eigene Initiative weitergeführt und ihre Ergebnisse sollen im Internet veröffentlicht werden - auch ohne institutionelle Unterstützung.
Große Bedeutung Lukács' - auch für Deutschland
Georg Lukács gilt als einer der wichtigsten Weiterentwickler der marxistischen Philosophie und Theorie des 20. Jahrhunderts. Zu Deutschland hatte der Sohn einer ungarisch-jüdischen Familie eine enge Bindung. Bereits in jungen Jahren lebte er in Heidelberg und Berlin, hatte engen Kontakt zu Max Weber und Ernst Bloch. Thomas Mann bewunderte Lukács so sehr, dass er die Figur des Naphta in seinem Roman "Der Zauberberg" an ihn anlehnte. Später sollte er, vor allem auch mit seinen zahlreichen Publikationen in deutscher Sprache, Intellektuelle sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland beeinflussen. Sein bis heute wohl bedeutendstes Werk "Geschichte und Klassenbewusstsein" (1923) prägte die Frankfurter Schule maßgeblich und hatte großen Einfluss auf die "Neue Linke".
Politisch eckten Georg Lukács' Schriften jedoch oft an. Im Moskauer Exil entging er nur knapp Stalins "Großem Terror". Zurück in Ungarn setzte er sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für einen gemäßigten Kommunismus ein: 1956 unterstützte er die reformkommunistische Regierung unter Imre Nagy, die schließlich von sowjetischen Truppen zerschlagen wurde. Anschließend wurde er nach Rumänien verbannt, anders als Nagy jedoch nicht hingerichtet und Jahre später sogar rehabilitiert.
Bis zu seinem Lebensende sprach sich Georg Lukács für eine friedliche Koexistenz von Kommunismus und Kapitalismus aus, plädierte für einen sogenannten "Dritten Weg". Seine Wohnung am Donauufer wurde zum Treffpunkt für Dissidenten, den sogenannten Kreis der Lukács-Schüler, der maßgeblich zur Liberalisierung des Kommunismus in Ungarn beitrug. Daran beteiligt waren unter anderem der Schriftsteller György Konrad sowie die Philosophin Ágnes Heller. Beide gehörten bis zu ihrem Tod 2019 zu den schärfsten Kritikern der Regierung von Viktor Orbán - wie es wohl auch ihr Lehrer Georg Lukács gewesen wäre.