"Israel - eine Klinik traumatisierter Menschen"
22. August 2021
Lizzie Doron ist die Tochter einer Auschwitz-Überlebenden. Der Krieg sei immer Teil ihres Lebens gewesen, sagte die israelische Schriftstellerin, die 1953 in Tel Aviv geboren wurde, unlängst. In ihrem autobiografischen Debütroman "Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?" (1998) erzählte sie vom Israel der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg und vom Leben ihrer Mutter. Das Buch gehört heute in Israel zur Schullektüre.
Binnen weniger Monate schrieb Lizzie Doron ihr zweites Buch. Für "Ruhige Zeiten", (2003) wurde Doron mit dem von der Gedenkstätte Yad Vashem vergebenen Buchman-Preis ausgezeichnet. Im Jahr 2007 erhielt sie den Jeanette-Schocken-Preis, den Bremerhavener Bürgerpreis für Literatur. Ihre letzten drei Bücher erschienen bisher nicht in ihrer Muttersprache Hebräisch, sondern nur auf Deutsch. Dorons Schreibstil gilt als kühl und klar.
Nun hat sie ihren neuen Roman vorgelegt: "Was wäre wenn". Das Buch handelt von einem Freund, der im Yom Kippur Krieg gefangen genommen wurde.
"Wir hatten falsche Träume"
Deutsche Welle: In "Was wäre wenn" besuchen Sie einen alten Schulfreund im Hospiz. Er wird sterben und wünscht sich, Lizzie noch ein letztes Mal zu sehen. Warum wollten Sie die Geschichte von Yigal Ben Dror, ihrem Freund, mit ihren Lesern teilen?
Lizzie Doron: Weil ich mich schuldig fühle. Eines der Privilegien des Alters ist es, dass ich zurückblicken kann und verstehe, welche Fehler ich in der Vergangenheit begangen habe - meine Ignoranz, meine Unfähigkeit zuzuhören. Als Schriftstellerin versuche ich, gegen Ungerechtigkeiten anzukämpfen, und so musste ich seine Geschichte erzählen.
Warum fühlen Sie sich schuldig? Was haben Sie getan?
Als Yigal in unsere Schule kam, war klar: Man stellt keine Fragen. Denn wir waren in unserem Viertel alle Kinder von Holocaust-Überlebenden. Wir hatten keine Ahnung, dass er gar nicht das biologische Kind seiner Eltern war. Aber weil ich selbst eine wunderbare Lügnerin war - ich erzählte allen, dass mein Vater im Unabhängigkeitskrieg gefallen war, dabei war er nach dem Zweiten Weltkrieg an Tuberkulose gestorben - spürte ich eine Nähe zu Yigal. Wir hatten etwas gemein. Daher verspüre ich heute auch nicht nur Schuldgefühle gegenüber Yigal, sondern auch mir selbst gegenüber. Wir waren "fake"-Kinder. Wir hatten falsche Träume, die eigentlich gar nicht unserer DNA entsprachen.
Sie erinnern sich im Buch, wie patriotisch sie beide als Jugendliche in den 1960er, 1970er Jahren waren.
Wir wollten wie all die anderen sein und übernahmen völlig das Narrativ des jungen Israel. Wir wollten Helden sein, die Welt erobern. Heute weiß ich, das waren die Träume von schwachen Menschen. Nach dem Holocaust erschien dies als eine Art Kompensation: Wir sind die Überlebenden, dies wird nie wieder passieren, wir werden für immer stark sein. Und Yigal nahm dies wörtlich.
"Zu spät, mein Verhalten zu ändern"
Yigal kämpfte als Soldat im Yom Kippur Krieg. Er kam in syrische Gefangenschaft und wurde schwer gefoltert. Als er wiederkam, war er nicht nur traumatisiert, er wurde auch zum Friedensaktivisten und wandte sich von Israel ab.
In den 70er und 80ern war es für mich der einfachste Weg, über Yigal zu mir selbst und auch im Freundeskreis zu sagen: Er ist verrückt (Lizzie Doron benutzt das deutsche Wort). Er ist ein Fall für den Psychiater, er ist crazy. Und ihn zu ignorieren. Das war sehr brutal. Jemand erzählt mir von seinen Albträumen und ich sage: Was für ein Schwächling, ich will nicht mehr seine Freundin sein. Jene, die ihre Stimme gegen Kriegsverbrechen, gegen Rassismus und ungerechtes Verhalten erheben, zahlen eine Menge für ihre Ehrlichkeit. Heute ist es zu spät, mein Verhalten zu ändern, aber im Buch kann ich diesen Prozess noch einmal durchmachen.
Die Ich-Erzählerin im Buch heißt Lizzie, aber wie viel Wahrheit steckt wirklich in der Geschichte? Gab es tatsächlich diesen Freund, Yigal Ben Dror?
Die Idee zum Buch kam mir, als ich mit Freunden essen war und einer von ihnen erzählte, ein alter Schulfreund habe ihn aus dem Hospiz kontaktiert. Er wolle ihn als letzten Menschen in seinem Leben sehen. Dabei hatten sie sich über 40 Jahre lang nicht gesehen. Als er im Hospiz ankam, hatte der Freund die Augen bereits zugemacht.
Am nächsten Morgen wachte ich mit dem neuen Roman auf. Ich hatte bereits den ersten und den letzten Satz im Kopf. Dann bekam ich Angst. Aber ich wusste, ich schuldete jemandem eine Geschichte. Ja, es gibt Yigal, aber ich weiß nicht, was im wahren Leben mit ihm passiert ist, ob er noch lebt. Alle haben den Kontakt mit ihm abgebrochen. Aber in ihm steckt auch ein zweiter Freund, ebenfalls mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. In der Auseinandersetzung mit beiden wurde mir auf einmal klar, was es bedeutet, Israeli zu sein.
Im Roman geht es nicht nur um Sie und Yigal, auch Ihre Mutter spielt eine wichtige Rolle. Was verband die beiden? Hatten Yigal und Ihre Mutter, eine Auschwitzüberlebende, gemein, traumatisierte Menschen zu sein?
Meine Mutter und meine posttraumatischen Freunde hatten eines gemein: Sie waren ehrlich genug zu sagen: 'Hört auf mit den Träumereien. Wir selbst zahlen den unerträglichen Preis dafür, wenn wir jemanden töten, wenn wir hassen, wenn wir es nicht schaffen, die tiefen Probleme innerhalb der israelischen Gesellschaft zu lösen.'
Meine Mutter verstand, dass Israeli zu sein bedeutet, Soldat zu sein. Und das bedeutet, den Teufelskreis aufrecht zu erhalten, am Ende werden wir schwach sein. Und so empfand sie diese tiefe Liebe gegenüber Soldaten, die gescheitert waren, die nicht mit einem Orden wiederkamen. Sie sagte: 'Diese Soldaten erzählen die wahre Geschichte des Krieges, ganz gleich welcher Nationalität sie sind. Meine Mutter war nicht gegen Israel, aber sie glaubte, dass Israel den falschen Weg ging. Mein Leben lang habe ich das zurückgewiesen. Heute verstehe ich meine Mutter und Yigal.
"Eine nie endende Geschichte"
Erst kürzlich ist es wieder zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen gekommen. Man wird den Eindruck nicht los, dass hier eine Generation nach der nächsten traumatisiert wird. Was denken Sie?
Wir befinden uns hier in einer Psychiatrie für posttraumatische Menschen. Das gilt in Israel nicht nur für jene, die an der Front kämpfen. Ich bin jetzt beinahe 70 und habe so viele Kriege erlebt. Als ich drei Jahre alt war, den Sinai-Krieg, als ich in der Grundschule war, den Sechstagekrieg, als ich zur Armee ging, kam der Yom Kippur Krieg, als ich eine junge Mutter war, die Intifada und der Golfkrieg und so weiter und so weiter. Als meine Kinder zur Armee gingen, gab es den Libanonkrieg. Es ist eine nie endende Geschichte. So zu leben, macht alle zu Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen.
Diese Erfahrung ändert etwas an der Kultur und am Verhalten. Ich bin keine Psychiaterin, aber ich habe das Gefühl, dass hier in Israel etwas von Grund auf falsch ist. Ist der eine Krieg zu Ende, beginnt der nächste. Wissen Sie, gleich hier neben meinem Arbeitsraum ist die Tür zum Schutzraum. Ich habe dort alles: Essen, Wasser, eine Gasmaske. Das ist doch verrückt. Wir sind mitten in Tel Aviv. Wenn ich auf Israel schaue, habe ich wirklich das Gefühl, ich blicke auf ein Freilufthospital für psychisch kranke Menschen.
Das Interview mit Lizzie Doron führte Sarah Judith Hofmann. Dorons Buch "Was wäre wenn" ist im Verlag dtv erschienen und kostet 18 Euro.