Das Holocaust-Gedenken heute
6. Mai 2020Die Berliner Dependance der Deutschen Repräsentanz von Yad Vashem, der internationalen Holocaust-Gedenkstätte, wirkt überraschend nüchtern. Doch Direktorin Ruth Ur ist zufrieden, denn von ihrem Büro aus hat sie freien Blick auf eine Synagoge und einen Hof mit einer sogenannten "Sukka" - einer Laubhütte, in der alljährlich das jüdische Sukkot-Fest, eine Art Erntedankfest, gefeiert wird. Die Aussicht verbindet Ruth Ur mit einer Gemeinschaft von Menschen, die ihren jüdischen Glauben - genau wie sie selbst - in Berlin leben und praktizieren wollen; in der Stadt, in der der Alptraum des Holocausts einst seinen Anfang nahm.
Das heutige Deutschland ist natürlich nicht mehr dasselbe Land, das es einst unter der Naziherrschaft war. "Es wurde viel getan, um des Holocausts zu gedenken, besonders seit der Wiedervereinigung", sagt Ruth Ur. "Denkmäler und Gedenkstätten wurden eingeweiht, es gibt neue Literatur zum Thema und sehr viel Unterrichtsmaterialien." Aber trotzdem herrsche in der Bevölkerung häufig ein gewisses Desinteresse an der Vergangenheit. "Manchmal habe ich das Gefühl, dass sich eine Art Kruste über die alten Wunden gelegt hat. Die Menschen sagen sich: 'Oh ja, das war schlimm, aber ich habe mich ja schon ausreichend damit auseinandergesetzt.'"
Deshalb sieht es Ruth Ur als ihre und die Aufgabe von Yad Vashem an, "neue Wege zu finden, diese Kruste aufzubrechen" und sicherzustellen, dass das Kapitel niemals geschlossen wird. Eines ihrer jüngsten Projekte war die Ausstellung "SURVIVORS. Faces of Life after the Holocaust" in Essen, in der Nahaufnahmen von 75 Holocaust-Überlebenden des Starfotografen Martin Schoeller gezeigt wurden.
Der frische Blick einer Außenstehenden
Bevor Ur im Juli 2019 Direktorin der deutschen Repräsentanz von Yad Vashem in Berlin wurde, war sie alles andere als auf Holocaust-Bildung spezialisiert. In den vergangenen 20 Jahren war sie rund um den Globus für den British Council tätig, die international agierende Organisation Großbritanniens für kulturelle Beziehungen und Bildungschancen.
Aber nachdem sie 2012 mit ihrer Familie nach Berlin gezogen war, wollte Ruth Ur ihr Leben in der deutschen Hauptstadt verankern. 2018 gründete sie daher die Beratungsagentur "urKultur". So konzeptionierte sie beispielsweise im Auftrag der Deutschen Bahn ein Kunstprojekt für Bahnstationen in Berlin und fertigte eine Machbarkeitsstudie für das im griechischen Thessaloniki geplante Holocaust-Museum an.
Die multiple Identität der in London geborenen Direktorin - sie ist zugleich Britin, Deutsche und Israelin - verleiht ihr einen einzigartigen Blickwinkel. Ihr offenkundiger Optimismus könnte unpassend wirken in einem Feld, das sich der Erinnerung undenkbarer Gräueltaten widmet: "Als ich die Position angeboten bekam, konnte ich mir zunächst kaum vorstellen, in einem Bereich zu arbeiten, der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit thematisiert", erzählt sie. "Ich zögerte, aber dann dachte ich, es ist ein Job, der getan werden muss. Man muss Energie, Vitalität und eine gewisse Frische hineinbringen. Es hat nicht allzu lange gedauert, bis ich mich entschieden habe: Mir war klar, ich muss es tun."
Yad Vashems digitale Führung in der Coronavirus-Krise
Yad Vashem ist Israels offizielle Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust. Das zugehörige Museum präsentiert die Geschichte der Schoah in einem einzigartigen architektonischen Setting. Gelegen am Berg der Erinnerung in Jerusalem, befindet sich der Hauptteil des von Safdie Architects designten Gebäudes unter der Erde. Es durchzieht den Berg auf einer Route, die die Besucher durch die Ausstellung führt und in der eindrucksvollen Halle der Namen endet. Zum Schluss eröffnet sich ein imposanter Panoramablick auf Jerusalem.
Das kostenlos zugängliche Museum lockt jährlich rund eine Million Besucher an, doch aufgrund der Corona-Pandemie ist es, wie so viele öffentliche Institutionen auf der ganzen Welt, derzeit geschlossen. Glücklicherweise ist die Einrichtung hervorragend aufgestellt und konnte schnell auf die neue Situation reagieren. Weil es das oberste Ziel Yad Vashems ist, große Mengen an Informationen zu sammeln und für die Nachwelt zu bewahren, hat es eine der besten digitalen Abteilungen der Welt. Und so waren in Corona-Zeiten schnell Online-Angebote verfügbar, auf denen sich Besucher informieren können.
2020 jährt sich zum 75. Mal die Befreiung der von den Nationalsozialisten geführten Konzentrationslager, daher sollte am 21. April eine große deutsche Delegation für die Jom haScho'a-Feierlichkeiten, dem Jahrestag des Holocaust-Gedenkens, nach Yad Vashem kommen. Aber zum ersten Mal in der Geschichte fand die Zeremonie ohne Publikum statt. Das voraufgezeichnete Event wurde online ausgestrahlt - mit einer deutschen Übersetzung. "Ironischerweise konnten wir damit eine viel größere Zahl an Menschen erreichen als sonst", so Ur.
Klare Fakten 75 Jahre nach Ende des II. Weltkriegs
Im Rahmen ihrer Arbeit muss Ruth Ur mit unterschiedlichsten Menschen und Organisationen zurechtkommen: mit Politikern und Körperschaften - und mit Holocaust-Überlebenden, die ihre Geschichte erzählen wollen. Wie zahlreiche andere zu schützende ältere Menschen auf der ganzen Welt, müssen auch die verbliebenen Augenzeugen derzeit wegen der Coronavirus-Gefahr zu Hause bleiben. "Für Holocaust-Überlebende ist das eine sehr seltsame Situation, die viele Erinnerungen zutage fördert", sagt Ur, die in regelmäßigem Kontakt mit Überlebenden steht. Aber sie hat auch festgestellt, wie viel man von deren Widerstandsfähigkeit lernen kann: "Wir müssen sie unterstützen, und gleichzeitig unterstützen sie uns durch das, was sie in ihrem Leben durchgemacht haben."
Während die internationale Medienöffentlichkeit auf die Entwicklungen der Pandemie fokussiert ist, ist der Antisemitismus auch 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs beunruhigend präsent. Hassattacken im Internet haben während der Corona-Krise sogar noch zugenommen, wie ein Bericht des Kantor Centers der Universität von Tel Aviv zeigt.
2020 hat Deutschland den Vorsitz der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (IHRA) inne. Das Hauptaugenmerk dieser zwischenstaatlichen Organisation liegt dieses Jahr auf dem Kampf gegen Desinformation und Leugnung des Holocausts. "Ich denke, das deutsche Präsidium hat ein gutes Thema gewählt, da wir mehr und mehr der Augenzeugen verlieren", sagt Ur. "Und es müssen noch mehr Anstrengungen unternommen werden, um die wahren Fakten zu verbreiten."