Wird Afrikas literarische Stimme lauter?
8. Oktober 2021In diesem Monat werden gleich zwei Literaten aus Subsahara-Afrika mit wichtigen Literaturpreisen bedacht. Die simbabwische Autorin Tsitsi Dangarembga nimmt Ende Oktober den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegen. Und mit Abdulrazak Gurnah wurde jetzt ein Autor mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, der ursprünglich aus Sansibar stammt und seit Ende der 1960er-Jahre in Großbritannien lebt.
Vor Gurnah nahm zuletzt 2003 ein Autor - der Nigerianer Wole Soyinka - aus Subsahara Afrika den renommierten Preis entgegen. Dann herrschte lange Funkstille. Kündigt sich jetzt ein Paradigmenwechsel an? "Ich glaube, dass sich die Welt für die Geschichten vom afrikanischen Kontinent öffnet", so Tsitsi Dangarembga im Interview mit der DW. "Doch es war ein langer Weg bis dahin." Dangarembgas Debütroman "Der Preis der Freiheit" war bereits Anfang der 1990er-Jahre in Deutschland erschienen, ist mehr oder minder in Vergessenheit geraten, bis Dangarembga das African Book Festival im Jahre 2019 kuratierte und ihr Roman unter dem Titel "Aufbrechen" neu aufgelegt wurde. Ähnlich verhält es sich mit den Büchern von Abdelrazak Gurnah. Insgesamt fünf von zehn Titeln sind ins Deutsche übersetzt, aber derzeit sind die deutschen Fassungen in den Buchläden - mangels Nachschub - vergriffen.
Das dürfte sich ändern: "Ich glaube, dass die Verleihung dieses Preises die afrikanische Literatur wiederbeleben kann", sagt der togolesische Autor Kossi Efoui. Viele afrikanische Autoren, die etwa auf Französisch oder in afrikanischen Sprachen schrieben, würden nicht ins Englische übersetzt. Dass afrikanische Literatur im Westen weniger wahrgenommen werde, liege also vor allem auch an der mangelnden Zugänglichkeit, so Efoui.
Mehr Aufmerksamkeit durch Black Lives Matter
"Die Black Lives Matter Bewegung hat auf jeden Fall sehr viel mediale Aufmerksamkeit geschaffen für die Perspektiven von People of Color auf der ganzen Welt", meint die auf afrikanische Literatur spezialisierte Buchhändlerin Venice Trommer. "Da hat ein Erwachen stattgefunden in den Köpfen vieler weißer Menschen, die eben versuchen, sich selber auch kritisch zu sehen in dem Weltsystem, in dem wir leben. Sie versuchen sich zu informieren und sich zu öffnen für Perspektiven, die sich von ihrer eigenen unterscheiden." Trommer betreibt mit zwei Kolleginnen die auf afrikanische Literatur spezialisierte Buchhandlung "Interkontinental" in Berlin. Zudem ist sie Mitorganisatorin des African Book Festivals. Von einem Paradigmenwechsel möchte sie noch nicht sprechen, aber "es war auf jeden Fall lange überfällig, dass über den europäischen und amerikanischen Tellerrand bei der Vergabe des Literaturnobelpreises geguckt wurde".
Von den Menschen in Gurnahs Heimatland Tansania beziehungsweise in der dazugehörigen Inselgruppe Sansibar wird seine Auszeichnung gefeiert: "Es bedeutet sehr viel für Sansibars Kampf um Selbstbestimmung", meint der sansibarische Literaturkritiker Ismail Jussa. "Es hilft, Sansibar wieder auf die Weltkarte zu bringen." Das Komitee habe anerkannt, dass seine Werke dazu beigetragen hätten, "die von den Kolonialisten verursachten Spaltungen, aber auch die Zerrissenheit der Herzen zwischen der Heimat, aus der die Menschen stammen, und dem Leben im Exil, in das die Menschen gezwungen wurden", zu verstehen.
Zwischen den Welten
Gurnah war zwölf, als Tansania die Unabhängigkeit erreichte. Während der tansanische Präsident Julius Nyerere sozialistisch eingestellt war, betrieb Sansibars lokaler Herrscher Abeid Karume eine grausame Afrikanisierung der Insel und hatte es vor allem auf den arabischstämmigen Teil der Bevölkerung abgesehen. Gurnah, der arabische Vorfahren hatte, floh 1968 ins englische Exil, studierte am Christ Church College in Canterbury und erwarb einen Abschluss der Universität London. Seine Muttersprache ist zwar Suaheli, aber er schreibt auf Englisch und ist in Großbritannien als Autor etabliert. Ebenso wie weitere in Europa und den USA anerkannte Autoren wie Chimamanda Ngozi Adichie oder Ngũgĩ wa Thiong’o kennt und bewegt sich Gurnah in beiden Welten - der westlichen und der afrikanischen.
"Autoren und Autorinnen, die auch im Westen leben oder gelebt haben, haben natürlich auch bessere Verbindungen ins Verlagswesen und wurden in europäischen, amerikanischen oder überhaupt international auch in anderen sprachlichen Kontexten verlegt", so Buchhändlerin Trommer.
Zudem seien die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen für Autoren in vielen Ländern Subsahara Afrikas schwierig, so Autorin Dangarembga. "Ein weiterer Grund ist, dass die Geschichten aus den afrikanischen Ländern südlich der Sahara in den meisten Fällen die globalen Machtstrukturen in Frage stellen, unter denen wir heute leben, weil die Welt auf einem Imperialismus basiert, der den Sklavenhandel, den Kolonialismus und den heutigen Rassismus beinhaltet." Diese Infragestellung mache es denjenigen, "die den Zugang zur Literatur in der Welt bewachen", nicht einfach, diese Geschichten so zu würdigen, wie es möglich wäre, wenn das Machtgleichgewicht anders wäre. "Das bedeutet also, dass wenige dieser Geschichten überhaupt durchkommen."
Ob nun mehr Geschichten afrikanischer Autoren "durchkommen", bleibt abzuwarten. Die Würdigung Abdulrazak Gurnahs war nicht nur eine Überraschung - er tauchte im Vorfeld nirgendwo als Favorit für den Literaturnobelpreis auf -, sondern für viele Menschen in der Welt der Literatur ein wichtiges Signal, dass es Zeit wird, sich für andere Erzählungen zu öffnen.