Literarische Radtour
22. Oktober 2014DW: Frau Bössen, Sie sind gerade drei Monate lang mit ihrem Fahrrad quer durch Deutschland geradelt und haben auf dem Weg gegen Kost und Logis deutsche Gedichte und Literaturtexte vorgetragen. Wie kann ich mir das genau vorstellen?
Anna Magdalena Bössen: Auf meinem Gepäcktrager habe ich einen Koffer voller Gedichte und Romane geschnallt. Die sind dort aber nur symbolisch drin, denn mein Beruf ist Rezitation, das heißt, ich trage alles auswendig vor. Ich habe eine Webseite mit einer interaktiven Karte, auf der sich meine Gastgeber eintragen können. Ich sehe dann, wo in Deutschland mir jemand etwas bietet. Das kein ein Bett sein, eine Bühne, oder auch nur eine Mahlzeit.
Was genau bieten Sie den Gastgebern mit diesem Kofferprogramm?
Das Kofferprogramm besteht einerseits aus einem Querschnitt durch die deutsche Literatur allgemein - von Goethe und Schiller zu Exilliteratur. Es beinhaltet aber auch spezifische Zitate von Dichtern und Denkern, die selber über die Deutschen sprechen und reflektieren, denn eine der Ausgangsfragen für meine Tour war: "Bin ich Deutschland? Und wenn ja, wer sind wir?"
Ich trage diese Zitate und Gedichte nicht einfach am Frühstückstisch vor, sondern habe ein ganzes Bühnenprogramm. Meistens beherbergen mich Gastgeber, die eine richtige Veranstaltung organisieren, Gäste einladen, eventuell sogar einen Raum anmieten.
Meistens sind bei so einer Veranstaltung zwischen 15 und 50 Leute anwesend, und das braucht das Programm auch, denn es ist mehr als nur eine Lesung. Es ist ein Schauspiel, in das ich mein Publikum immer wieder mit einbeziehe. Ich frage zum Besipiel regelmäßig Leute im Publikum: "Sind Sie Deutschland?" Und dann diskutieren wir die Frage anhand von persönlichen Geschichten und anhand von Literatur.
Wie genau versuchen Sie die Frage, was Deutschland ausmacht, zu erörtern?
Das ganze Programm beginnt mit Heinrich Heines Gedicht: "Deutschland. Ein Wintermärchen". Am Anfang geht es darum, sich ein Himmelreich auf Erden zu errichten. Ich frage das Publikum, wie das gehen kann. So startet die Diskussion.
Die meisten sind der Meinung, dass wir in einem Himmelreich leben, es aber nicht als solches behandeln. Vor allem, wenn man unser Land mit anderen Ländern vergleicht. Aber es sind sich auch alle einig, dass wir zu viel meckern. Ich frage immer: "Wer glaubt wir Deutschen meckern zu viel?" und dann heben wirklich alle die Hand. Und wenn ich dann frage: "Und wer meckert hier zu viel?" dann meldet sich manchmal keiner mehr bis auf zwei, drei Ehrliche.
Schwermut spielt in der deutschen Literatur und auch in ihrem Programm eine große Rolle. Würden Sie sagen, dass wir Deutsche besonders schwermütig sind?
Auf jeden Fall nehmen wir die Dinge nicht leicht, und auch nicht leichtfertig. Eine Frau im Publikum hat einmal gesagt, dass meine Radtour ja schon total deutsch sei. Ich radle nicht einfach durch die Gegend und schaue mal wo ich unterkomme, sondern ich nehme mir ein Thema, ich stelle philosophische, große Fragen auf dieser ganzen Reise und probiere, darauf eine Antwort zu finden. Das ist natürlich schon sehr deutsch, dieses ständige Reflektieren. Und das finde ich auch sehr gut, auch wenn ich glaube, dass es uns manchmal im Weg steht.
Gibt es etwas, das Sie auf ihrer Reise über die Deutschen gelernt haben, was Ihnen so vorher nicht bewusst war?
Ja, eine nach wie vor sehr starke Liebe zur Literatur. Wir waren einmal das Land der Dichter und Denker. Das ist teilweise durch unsere Geschichte verloren gegangen, aber auch durch den Schulunterricht, in dem Lyrik nur analysiert und nicht mehr erlebt wird.
Um Literatur wirklich zu erleben, muss man weg vom Analytischen, man darf nicht bloß bewegungslos dasitzen und einem Gedicht lauschen. Wenn ich die Texte in einem anderen Rahmen rezitiere, dann kann sich das Publikum da richtig darauf einlassen und dann hat das eine ganz andere Wirkung. Ich habe immer vermutet, dass es in Deutschland immer noch eine Begeisterung für Literatur gibt, aber ich habe nicht erwartet, dass ich doch so viele Menschen durch Gedichte und Literatur berühren kann.
Und kommen die klassischen Texte der Dichter und Denker auch heute noch bein allen gut an?
Ja absolut. Ich habe als Beispiel für deutsche Leidenschaft die Ballade von Goethe "Willkommen und Abschied" - und die haut immer alle um. Auch Hilde Domins "Ich lade dich ein" kommt beim Publikum sehr gut an. Das ist ein ganz berührendes Gedicht von einer Dichterin, die im Exil lebte und kein Zuhause mehr hat und sich in ihrer Phantasie das perfekte Haus baut - und am Ende nimmt das alle sehr mit. Ich suche auch bewusst Texte aus, die über die Frage: "Wie ticken wir Deutschen eigentlich?" hinausgeht und größere Themen wie Identität und Heimat ansprechen.
Wie und wann kamen Sie auf die Idee das Projekt zu starten?
Ich mache das schon lange im kleinen Stil in Hamburg, wo ich Erlebnistouren durch die Stadt anbiete, in denen Gedichte, Texte und Lieder in ein Schauspiel eingewebt sind. Die Menschen bewegen sich durch die Stadt, nehmen die Stadt als Kulisse wahr und erleben Literatur ein bisschen durch die Hintertür. Das habe ich im Prinzip jetzt groß gemacht als Text-Tour durch Deutschland.
Als ich an einem regnerischen Tag an der Elbe mit dem Fahrrad lang gefahren bin, ist mir aufgefallen, dass es so viele Orte in meinem Land gibt, an denen ich noch nie war. Ich wollte Deutschland besser kennen lernen. Zudem wollte ich schon eine Weile beruflich was Neues machen. Ich wollte wieder Freiheit haben und zurück an meine Wurzeln kommen. Und so hat sich die Idee langsam entwickelt.
Und warum gerade mit dem Fahrrad und nicht per Anhalter oder öffentlichen Verkehrsmitteln?
Ich bin ein totaler Fahrradmensch und ich finde, man muss sich die Stationen auch erarbeiten. Ich mache ja eine Landschaft in dem Moment zu meiner, in dem ich sie auch irgendwie bewältige. Es ist ein ganz anderes Gefühl eine Stadt mit dem Fahrrad zu erreichen, vorbei am ersten Stadtschild. Ich werde nie vergessen, dass Jena zwischen wunderschönen Berghängen liegt, weil ich sie alle rauf und runter gefahren bin. Und das Tempo spielt auch eine Rolle, das ist auf dem Fahrrad perfekt. Man kommt zügig voran und doch bekommt man alles mit - vom Wetter, Menschen und Tieren.
Wie geht es jetzt weiter, wo Sie die ersten beiden Etappen erreicht haben?
Den Norden und Osten habe ich schon beendet - ich habe die ganze Ostküste gemacht, bin an der polnischen Grenze entlang gefahren, in einem Tag durch Sachsen-Anhalt und an der Elbe entlang zurück nach Hamburg. Jetzt beginnt die Wintersaison, das bedeutet ich bin zu hause in Hamburg, bereite aber die nächste Etappe schon vor. Die startet dann im nächsten Mai, das ist dann genau ein Jahr nach dem Start der Reise, und dann nehme ich mir den Westen und Süden vor. Wirklich beendet ist dieses Projekt also erst im Oktober 2015. Und vielleicht kann ich dann die Frage richtig beantworten, was Deutschland eigentlich ausmacht.
Anna Magdalena Bössen ist eine 34-jährige Sprecherzieherin und Gründerin der Hamburger textouren. Im Mai 2014 begann ihre Literatur-Radtour "Deutschland. Ein Wandermärchen", welche sie im Oktober 2015 beenden wird.