Literarische Projektionen
30. Dezember 2017Was bringt die Zukunft? Diese Frage, die sich viele Menschen gerade zur Jahreswende immer wieder neu stellen, hat in der Literatur eine eigene Form hervorgebracht. "Vom besten Zustand des Staates und der Insel Utopia", schrieb Thomas Morus vor gut 500 Jahren, damals noch auf Latein. Im 20. Jahrhundert sind die Schilderungen einer idealen Welt von Dystopien abgelöst worden. George Orwells Zukunftsroman "1984" erlebte 2017 in den USA neue Bestseller-Auflagen. Von Trumps "alternativen Fakten" ist der gedankliche Weg ins Orwell'sche "Wahrheitsministerium" nicht weit.
Globalisierung, Digitalisierung, Umweltzerstörung, Klimawandel, Flüchtlingsbewegungen und Terror - wir leben in einer Umbruchzeit, in der der rasante technologische Wandel gesellschaftlich immer spürbarere Folgen zeitigt. Auf der aktuellen Spiegel-Bestsellerliste finden sich gleich drei Romane, die mit einem Blick in die Zukunft darauf reagieren. Juli Zeh, die zu den erfolgreichsten deutschen Autorinnen der Gegenwart gehört, schaut mit ihrem Politthriller "Leere Herzen" gleich um die Ecke, ins Jahr 2025. Sie denkt weiter, was geschehen kann, wenn eine Generation das politische Interesse verliert und durch Gleichgültigkeit einem demokratiefeindlichen System zur Macht verhilft: in einem spannenden Buch, in dem es um Populismus, Politverdrossenheit und Terror geht.
Juli Zehs "Leere Herzen": Was passiert, wenn man sich in der Gesellschaft passiv einrichtet?
Die Zeit der Großstädte ist vorbei. Mittelgroße Gemeinden wie Braunschweig sind der neue Hype, passend zu einem unauffälligen, möglichst bequemen Leben. Angela Merkel ist abgesetzt, die "Besorgte Bürger Bewegung" ist dabei, die Demokratie abzuschaffen. Britta Söldner und ihr Geschäftspartner Babak Hamwi haben gemeinsam eine kleine Firma aufgezogen, "Die Brücke", die sie beide reich gemacht hat. Die geheimnisvolle Agentur operiert offiziell als Praxis für "Selbstmordprävention", inoffiziell vermittelt sie Kandidaten für Selbstmordattentate. Suizidwillige, die sich auch nach einem harten Trainingsprogramm inklusive Waterboarding nicht von ihrem Vorsatz abbringen lassen, können so mit ihrem Tod einem höheren Zweck dienen. Die Märtyrer werden an Umweltorganisationen oder andere Interessenverbände vermittelt, das Geschäft boomt, und der unkontrollierte Terror scheint abgeschafft.
Britta und die wenigen anderen Figuren des Romans bleiben flach, ohne bewegendes emotionales Innenleben. Trotzdem folgt die Leserin Brittas Interessen und ihren aufkommenden Ängsten, als ein konkurrierendes Terrorunternehmen ihr eigenes bedroht, mit erstaunlicher Sympathie. Wo bleibt die Empörung, das Gewissen? Juli Zeh zeigt, was geschehen kann, wenn das eigene Bewusstsein und mit ihm der öffentliche Diskurs eingeschlafen ist. Ihr Buch sei eine fast schon therapeutische Diagnose, erklärte die Autorin in Interviews. Dabei gehe es ihr weniger um die Diskussion gesamtgesellschaftlicher Werte, sondern darum, wofür man ganz persönlich einstehen möchte.
Marc-Uwe Klings "Qualityland": Wenn Algorithmen deinen gesellschaftlichen Level bestimmen
"1984" zeigte eine totalitäre Gesellschaft, eine bis ins letzte Detail durchorganisierte Tyrannei. In Dave Eggers Erfolgsroman "The Circle" von 2013 beherrschen nicht totalitäre Staaten die Menschen, sondern ein Mega-Konzern. Ähnlich ist die Lage auch in Marc-Uwe Klings "Qualityland", wo kybernetische Systeme wie "TheShop" die Menschen kommerziell tyrannisieren, Algorithmen ihre soziale Einstufung vornehmen und ein Androide Präsident werden kann. "Qualityland" fährt inhaltlich so gut wie alles auf, was eine ordentliche Dystopie ausmacht: Überwachung, Kontrolle, Konsumterror, Arbeitslosigkeit samt sinnentleerten Lebensentwürfen, Parteien ohne politisches Programm, korrupte Machtpolitiker.
Doch der Grundton des Romans ist rein satirisch. Marc-Uwe Kling ist seit 2005 als Autor der "Känguru-Chroniken" und als Kabarettist durch die Dialoge mit seinem hinreißend komischen kommunistischen Känguru bekannt geworden. Derselbe absurde Witz zeichnet auch seinen Zukunftsroman aus, den es in zwei Versionen gibt, einer "hellen" und einer "dunklen". Die fortlaufenden Kapitel sind dabei gleich, die beiden Ausgaben unterscheiden sich nur in den eingeschobenen Werbetexten und Nachrichten. "Es gibt das Buch in zwei Farben: Hell mehr Dur, Dunkel mehr Moll", erklärt Kling seinen Vermarktungs-Gag in Lesungen. Und die dunkle Variante verkaufe sich bei den pessimistischen Deutschen besser.
Zukunftsvision mit anarchischem Witz
Marc-Uwe Kling ist Überzeugungsautor, das merkt man diesem Buch an. Seine politischen Visionen wie das bedingungslose Grundeinkommen vertritt ausgerechnet ein Androide, der smarte Präsidentschaftsbewerber John of Us. Maschinen sind überhaupt die besseren Menschen in diesem Deutschland ähnlichen Land der nahen Zukunft, vor allem die älteren, halb defekten, die Peter Arbeitsloser, der Held der Geschichte, illegalerweise nicht entsorgt hat. Unter ihnen findet sich auch mit dem "Qualitypad Pink" ein Doppelgänger im Geiste mit dem anarchistischen Witz des Kängurus.
Klings düster-komische Zukunftsvision transportiert ihren Tiefsinn mit größtem Lesespaß – in Qualityland sind übrigens nur Superlative erlaubt. Peter Arbeitsloser, der wie alle Menschen des Kommerzstaats als Nachnamen den Beruf eines Elternteils zum Zeitpunkt seiner Geburt tragen muss, ist ein Systemverweigerer, ein unkonventioneller Loser. Die hellsichtige Gesellschaftskritik des Autors mündet in einen Forderungskatalog, den er Peter in den Mund legt: "Erstens: Alle sollten die Möglichkeit bekommen, ihre Profile einsehen und korrigieren zu können. Zweitens: Die Arbeitsweise der Algorithmen, die über uns entscheiden, muss transparent gemacht werden, und wir müssen Möglichkeiten bekommen, diese Algorithmen zu beeinflussen. Dazu ist es unbedingt notwendig, dass die Algorithmen ihre Entscheidungen begründen! Erst eine Begründung ermöglicht es einem, sinnvoll zu widersprechen! Drittens: Die Blasen müssen platzen! Ich möchte, dass mir auch Nachrichten von allgemeinem Interesse angezeigt werden und nicht nur solche, die in mein angebliches Weltbild passen. Viertens: Du solltest die großen Netzkonzerne irgendwie dazu zwingen, ihr Geschäftsmodell zu ändern." Am Ende steht der Held von der traurigen Gestalt übertrieben klischeehaft als Liebes-Sieger und Freundschaftsgewinner da.
Maja Lundes "Die Geschichte der Bienen": Was passiert, wenn die Umwelt so zerstört ist, dass es keine Bienen mehr gibt?
Die Trennlinie zwischen Science-Fiction und Wissenschaft ist dünn geworden. Eugen Ruge hat sich 2016 mit seinem Roman "Follower" auf diese schmale Gerade in die Zukunft gewagt, indem er von transparenten Bürgern und kompletter Datenüberwachung erzählt. Handlungsort ist China, und dieses Land hat auch die norwegische Autorin Maja Lunde für ihr faszinierendes Buch "Die Geschichte der Bienen" erwählt. 2098 sind die Bienen längst ausgestorben. Tao und viele andere Zwangsarbeiterinnen bestäuben die Blüten der Apfel- und Birnenbäume in den eintönigen Plantagen mühevoll per Hand. Die Menschen haben nicht genug zu essen, Fleisch wird nicht mehr produziert, eine unfassbare Autorität regelt das kollektive Leben per Lautsprecher, willkürlicher Kontrolle und Militäreinsätzen. Großstädte sind auch hier keine Anziehungspunkte mehr, die Menschen wurden zwangsumgesiedelt, in weiten Regionen Pekings herrscht die Gewalt und Anarchie einer verrohten Unterschicht.
Maja Lundes Bestseller folgt drei Erzählsträngen an drei verschiedenen Orten und Zeiten, und alle haben mit Bienen und Imkern zu tun. Der Engländer William Savage ist von einer tiefen Depression umfangen. Naturforscher wollte er sein, durch Publikationen glänzen, aber der ökonomische Zwang einer kinderreichen Ehe hat aus dem Wissenschaftler einen Samenhändler gemacht. Monatelang liegt er im Bett, ehe eine neue Leidenschaft ihn aus seinem Trübsinn befreit: Er besinnt sich auf ein kleines Buch über Bienen und kommt auf die Idee, einen neuartigen Bienenkasten zu bauen. Einen Kasten, der die Honigernte erleichtern und die Insekten zu Haustieren machen soll.
Eine Dystopie als verwobene Familiengeschichte
Doch er ist nicht allein mit diesem vermeintlichen Geniestreich, der ihn reich und berühmt machen sollte. 1852 haben auch andere Bienenliebhaber neue Pläne für ihre Bienenstöcke. Savage scheitert. Seine Skizzen mit den ungenauen Größenangaben überdauern nur dank seiner gelehrigen Tochter Charlotte.
Doch diese Zeichnungen retten auch seinen Nachfahren George Savage 150 Jahre später nicht. 2007 muss der amerikanische Imker erleben, wie seine Bienenvölker sterben. Die große Ausrottung rafft die Völker der meisten Züchter dahin, und niemand weiß genau, woran es liegt. Diesmal ist es sein entfremdeter Sohn Tom, der die Zeichnungen rettet und später ein Buch über die wissenschaftlichen Versuche und Erkenntnisse seiner Vorfahren schreibt, "Der blinde Imker".
Mit diesem Buch schließt sich der Kreis wieder bei Tao, ihrem Sohn - und den Bienen. Die drei Geschichten sind ineinander verschränkt erzählt. Am Ende steht die Hoffnung, dass die Bienen zurückkehren und undomestiziert in der Natur leben können. Lundes Buch ist jedoch keine umweltpolitischer Bericht, sondern großartige Fiktion, bei der nicht die Bienen, sondern die Menschen samt ihrer Konflikte mit den Kindern und ihrer Lebensumgebung im Mittelpunkt stehen.
Auch das negative Gegenbild der Utopie, die Dystopie, stellt ihre fiktive Realität immer einer tatsächlichen, aktuellen politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenüber. Die Spanne zwischen beidem wird immer geringer, der Kontrast immer schwächer.
Juli Zeh: "Leere Herzen", Luchterhand Verlag 2017, 352 Seiten
Marc-Uwe Kling: "Qualityland", Ullstein Verlag 2017, 384 Seiten
Maja Lunde: "Die Geschichte der Bienen", aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein, btb Verlag 2017, 512 Seiten